Artenvielfalt:Wiederauferstanden von den Ausgestorbenen

In der Wildnis, tief im Dschungel, in einer Skihütte oder im Mülleimer: Überraschend häufig werden Tierarten wiederentdeckt, die längst als ausgestorben galten. Sind Meldungen über das Artensterben etwa übertrieben?

Katrin Blawat

Es ist ja keine Schande, gelegentlich etwas zu übersehen. Den Tausendfüßer Illacme plenipes zum Beispiel, oder den Israelischen (oder Palästinensischen) Scheibenzüngler - auch wenn dieser Frosch immerhin acht Zentimeter groß werden kann.

Kurznagelkänguru

Warst du nicht längst tot? Von wegen. Fast 40 Jahre lang lebte eine kleine Gruppe Kurznagelkängurus im australischen Hinterland, unbemerkt - und unbehelligt - vom Rest der Welt.

(Foto: oh)

Beide Arten galten einst als ausgestorben, und tauchten dann doch wieder auf. Ein Irrtum, das kann passieren. Aber ein Känguru? Oder ein fast 100 Kilogramm schwerer Fisch? Kann man die auch übersehen? Man kann.

Wissenschaftlern war der Quastenflosser lange Zeit nur als Fossil bekannt. Die großen Fische seien vor fast 70 Millionen Jahren ausgestorben, vermuteten die Forscher. Dann entdeckte 1938 die Leiterin eines südafrikanischen Meeresmuseums einen Quastenflosser im Fang eines Fischerbootes.

Ähnlich erging es dem Kurznagelkänguru. 36 Jahre lang galt es als ausgerottet, Füchsen und der menschlichen Pelz-Mode zum Opfer gefallen. 1973 las ein australischer Zaun-Lieferant einen Bericht über ausgestorbene Tiere, der auch das Kurznagelkänguru erwähnte. Der Mann aber kannte das Hinterland und berichtete von einer kleinen Gruppe der Beuteltiere in Queensland.

Seither gehören das Känguru, der Quastenflosser, der Tausendfüßer und der israelische Frosch zu den sogenannten Lazarus-Arten. Angelehnt an den von Jesus wieder zum Leben erweckten Mann bezeichnen Naturschützer damit Tiere und Pflanzen, die bereits als verschwunden galten - und dann doch wieder gefunden wurden.

Wie aber lässt sich erklären, dass sogar stattliche Tierarten jahrelang übersehen werden? Und: Ist es Regel oder Ausnahme, wenn verloren geglaubte Spezies wieder auftauchen? Sind Meldungen über das Artensterben übertrieben?

Erstaunlich viele Lazarus-Arten

Die letzte Frage zumindest lässt sich kurz und eindeutig beantworten: Nein. Die Biodiversität schrumpft in alarmierendem Ausmaß. Daran ändert sich nichts, wenn Naturschützer ausnahmsweise Erfreuliches melden können. "Natürlich ist es ein tolles Gefühl, eine Art wiederzuentdecken", sagt Rainer Willmann von der Universität Göttingen.

AUSGESTORBEN GEGLAUBTES INSEKT MÜCKENHAFT

Der zu den Schnabelfliegen zählenden Mückenhaft wurde von einem Göttinger Zoologen im Harzvorland wiederentdeckt. Zuletzt war ein Tier dieser Art dort um 1870 beschrieben worden.

(Foto: DPA/DPAWEB)

Der Zoologe kennt das aus eigener Erfahrung, seit er 2003 im Harzvorland ein seit 140 Jahren ausgestorben geglaubtes Insekt fand - den Mückenhaft. "Gleichzeitig wissen wir, dass dafür viele andere Tiere verschwinden."

Dennoch gibt es erstaunlich viele Lazarus-Arten. Gut ein Drittel der 187 Säugetiere, die seit dem Jahr 1500 für ausgestorben erklärt wurden, sind wieder aufgetaucht, berichteten 2010 die australischen Biologen Diana Fisher und Simon Blomberg von der Universität Queensland.

Zu einem ähnlichen Schluss waren zuvor auch Ross MacPhee und Clare Flemming vom Amerikanischen Museum für Naturgeschichte gekommen. Ihnen zufolge könne man nur bei gut einem Drittel der als ausgestorben deklarierten Säugetieren sicher sein, dass sie wirklich aus der Biosphäre verschwunden sind. Die übrigen Spezies betreffend gebe es entweder zu wenige Belege für ihre Ausrottung - oder sie sind anschließend wieder lebendig nachgewiesen worden.

Ob eine Art das Etikett "ausgestorben" trägt, ist vor allem eine Frage der Definition. Die Kriterien für diese Kategorie bestimmt die Internationale Naturschutz-Union IUCN (International Union for Conservation of Nature). Wenn eine Spezies lange nicht gesichtet wurde, obwohl Experten mit angemessenem Aufwand nach ihr gesucht haben, gilt sie als "extinct".

Was "lange" und "angemessen" bedeutet, richtet sich nach Lebensform, -raum und -rhythmus der jeweiligen Art und wird ebenfalls von einem Expertenteam bestimmt.

Bizarrer Streit um einen Specht

THE PLAYERS Championship - Round One

Nein, kein Elfenbeinspecht sondern ein ganz ähnlich aussehender Vogel, der Helmspecht, ist hier zu sehen. Da die Unterschiede in der Gefiederfarbe der Tiere nur gering sind, kann man sie leicht verwechseln. Oder auch nicht, denn der Elfenbeinspecht ist nicht mehr zu finden.

(Foto: AFP)

"Da kann man sich natürlich mal irren", sagt Willmann. Ein bizarrer Streit war die Folge, als sich 2005 Specht-Experten gegenseitig Fehler vorwarfen. Damals verkündete John Fitzpatrick von der Cornell University sehr entschieden im Fachmagazin Science, in Nordamerika lebe noch immer der Elfenbeinspecht, allen Behauptungen über sein Aussterben Mitte des 20. Jahrhunderts zum Trotz. Video- und Tonaufnahmen zeugten Fitzpatricks Ansicht nach von der Existenz des größten nordamerikanischen Spechts.

Unsinn, entgegnete der Vogelkundler David Sibley ein Jahr später sinngemäß in der gleichen Zeitschrift. Fitzpatrick habe Färbung und Größe sowie das Flug- und Klangmuster des Vogels falsch interpretiert.

Es handele sich um einen Helmspecht; der Elfenbeinspecht bleibe ausgestorben. Als Fitzpatrick erneut widersprach, bekam der Streit Unterhaltungswert. Ornithologen fühlten sich an ein Donald-Duck-Comic erinnert, in dem Donald und seine Neffen ebenfalls die Frage "Elfenbein- oder Helmspecht?" diskutieren. "Dass man eine Art nicht findet, heißt nicht, dass es sie nicht mehr gibt", sagt der Zoologe Willmann. Andererseits seien Schlüsse oft fehlerhaft, die man aus der bloßen Sichtung zieht.

Um Lazarus-Spezies aufzuspüren, bedienen sich Forscher mittlerweile trickreicherer Methoden. Die Riesenschildkröte Chelonoidis elephantopus etwa galt seit 150 Jahren als ausgestorben. Dann fanden Forscher auf den Galapagos Mischlings-Schildkröten. Erbgut-Analysen zeigten, dass es sich bei einem ihrer Elternteile offenbar um einen Vertreter der verloren geglaubten Art handelt.

Irgendwo muss die rätselhafte Spezies also noch leben, denn wer Nachkommen zeugt, kann nicht ausgestorben sein. Die Forscher vermuten nun, dass es noch etwa 40 Exemplare der Lazarus-Art gibt, auch wenn kein Auge und keine Kamera diese gesehen haben.

Wie die Riesenschildkröten leben die meisten wiederentdeckten Spezies in abgelegenen Regionen: in Kriegsgebieten, auf Inseln oder in einem schwer zugänglichen Dschungel. So auch die kleinen Primaten namens Presbytis hosei canicrus, die zu den Mützenlanguren zählen und seit 2005 als ausgestorben galten. Vor wenigen Wochen verkündete Brent Loken von der kanadischen Simon Fraser University: "Es gibt sie doch noch."

Der Biologe filmte im Regenwald auf Borneo Leoparden und Orang-Utans, als ihm die Mützenlanguren vor die Kamera sprangen - in einem Gebiet, in dem sie niemand vermutete. Damit sind die Affen ein typisches Beispiel: Ein Art gilt als ausgestorben, weil Forscher und Naturschützer an den falschen Orten nach ihr gesucht haben. Um zu erkennen, wo sich ein Tier überall verstecken könnte, muss man es gut kennen. Das aber ist bei den wenigsten Lazarus-Arten der Fall.

Auf dem Lebensmittelmarkt wiederentdeckt

Laotische Felsenratte

Lange Zeit wussten Forscher nur durch Fossilfunde, dass Laotische Felsenratten existiert haben. Dann tauchten lebende Vertreter der Art auf.

(Foto: David Redfield)

Mindestens ebenso findig wie Wissenschaftler sind Laien, wenn es darum geht, verloren geglaubte Arten wiederzubeleben. Die Tiere tauchen nämlich oft an Orten des täglichen Lebens wieder auf. Der mausähnliche Bergbilchbeutler etwa wurde 1966 in einer australischen Skihütte wiederentdeckt. Bis dahin kannten Experten das kaum 50 Gramm schwere Tier nur als Fossil.

Lebensmittelmärkte sind ebenfalls ein guter Ort, um nach Lazarus-Arten zu fahnden. "Da tauchen sie häufig wieder auf", sagt Volker Homes, Leiter der Abteilung Artenschutz des WWF. So war es auch im Fall der Laotischen Felsenratte. Lange Zeit wussten Forscher nur durch Fossilfunde, dass derartige Tiere einst auf der Erde gelebt hatten. Sie seien vor elf Millionen Jahren ausgestorben, folgerten Wissenschaftler aus den Versteinerungen.

Daher war die Überraschung groß, als Forscher die struppigen Nager vor sieben Jahren in der Fleischauslage auf einem Markt in Laos entdeckten. Die Einheimischen bevorzugen die Tiere gegrillt. Immerhin gelang es kurz darauf einem ehemaligen Mitarbeiter der Florida State University auch, ein lebendes Exemplar zu fangen.

Ob ein solch glücklicher Ausgang der Lazarus-Geschichte auch im Fall des Laufhühnchens Turnix worcesteri noch möglich ist? Die IUCN war sich über das Schicksal der Vogelart noch nicht endgültig im Klaren, als 2009 ein Filmteam auf den Philippinen den Vogel aufnahm, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Erst ein Ornithologe erkannte den Vogel im Film - aber da war es für das weltweit vielleicht letzte Worcester-Laufhühnchen bereits zu spät. Es hatte auf einem philippinischen Fleischmarkt einen Käufer gefunden. "Ich bin traurig, dass dieser Vogel für den Kochtopf verkauft wurde", sagte der Ornithologe damals.

Nicht nur Glück

Artenvielfalt: Der Israelische Scheibenzüngler galt als ausgestorben - nach Naturschutzmaßnahmen in Israel ist er wieder aufgetaucht.

Der Israelische Scheibenzüngler galt als ausgestorben - nach Naturschutzmaßnahmen in Israel ist er wieder aufgetaucht.

(Foto: Reuters)

Die Wiederentdeckung von Laufhühnchen, Felsenratte und all den anderen Lazarus-Arten klingen nach purem Glück. Doch Fisher und Blomberg sehen das anders: "Die Wiederentdeckung ausgestorben geglaubter Arten ist kein Zufall." Die australischen Biologen präsentieren eine Art Checkliste, die zu entscheiden hilft, wann die Chancen zur Wiederentdeckung besonders gut sind.

Die beste Prognose haben demnach Säugetiere und Vogelarten, die einst in ausgedehnten Gebieten lebten und durch den Verlust ihres Lebensraumes dezimiert wurden. Für sie ist die Wahrscheinlichkeit, in einem übersehenen Winkel zu überdauern, mehr als drei Mal so hoch wie für Arten, die Krankheiten, tierischen oder menschlichen Jägern zum Opfer gefallen sind.

Häufig würden Forscher unterschätzen, wie gut sich Tiere und Pflanzen an eine neue Umgebung anpassen könnten, so die Erklärung der Biologen. Wenn hingegen invasive Räuber heimische Arten fressen oder der Mensch sie systematisch abschießt, nützt den Alteingesessen ihre Anpassungsfähigkeit nicht viel. Wohl aus diesem Grund haben die Säugetiere, die im 20. Jahrhundert als ausgestorben gemeldet wurden, eine vergleichsweise gute Prognose - ihre Populationen schrumpften meist wegen des verloren gegangenen Lebensraums.

Diese Erkenntnis dürfte den Arten-Fahndern der IUCN Mut machen. Seit zwei Jahren suchen sie in Lateinamerika, Afrika und Asien nach verschollenen Fröschen, Kröten, Molchen und Salamandern. Außerdem fahndet die Initiative "Lost Frogs" speziell in Indien nach 48 Spezies, die womöglich doch noch nicht verloren sind. Einer ihrer bisherigen Erfolge betrifft den Frosch Micrixalus thampii. Nach 30 Jahren ist er im Mülleimer einer Feldstation wieder aufgetaucht.

Und das Projekt "Lost Bird" sucht nach 47 möglichen Lazarus-Vogelarten, von denen manche seit fast 200 Jahren als ausgestorben gelten. Projektleiter Marco Lambertini ist voller Hoffnung: "Die Geschichte hat uns gezeigt, dass wir Arten nicht aufgeben dürfen, die als ausgestorben gelten."

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