Mit dem Insektensterben ist es wie einst mit dem Klimawandel. Viele Menschen nehmen eine Veränderung wahr, aber das Phänomen wissenschaftlich nachzuweisen, ist extrem schwierig. Wie beim Wetter sind auch bei den Insekten starke jährliche Schwankungen normal. Dieses Jahr gibt es beispielsweise relativ viele Schmetterlinge. 2016 hatten sich noch besorgte Bürger bei Naturschutzorganisationen gemeldet, weil die Falter so gut wie verschwunden zu sein schienen. Dass extreme Wetterereignisse wie Starkregen und Stürme aufgrund des Klimawandels zunehmen, gilt mittlerweile als erwiesen. Um gesicherte Aussagen darüber zu machen, wie es den Insekten in Deutschland geht, fehlen hingegen die Daten. Wie beim Klima bräuchte es umfassende Langzeitbeobachtungen über mindestens zehn Jahre. "Dafür, dass das Thema so wichtig ist, wissen wir wenig", sagt Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle.
Die wenigen Langzeitbeobachtungen, die es in Deutschland gibt, sind meist lokal begrenzt und lassen deshalb keine Rückschlüsse auf die Situation im ganzen Bundesgebiet zu. Trotzdem sind sie wichtige Puzzlesteine und viele kommen zu erschreckenden Ergebnissen. Von den südöstlichen Juraausläufern beispielsweise, einem Naturschutzgebiet im Osten von Regensburg, liegen Daten vor, die bis ins Jahr 1840 zurückreichen. Damals gab es dort 117 verschiedene Schmetterlingsarten. Heute sind es nur noch 71. Im Moseltal sammeln Entomologen seit 1972 Informationen über Schmetterlinge auf Magerrasen. Fazit: Bis zum Jahr 2012 sind dort 40 von ursprünglich 70 Falterarten verschwunden. Drei sind dazugekommen.
Umwelt:Wenn jede Alltagsbeobachtung zu Alarmismus führt
Meldung wie das "verheerende Insektensterben in Deutschland" fühlen sich so wahr an, dass oft gar nicht nach deren Ursprung gefragt wird. Ein großer Fehler.
"Vor allem Arten, die auf ganz bestimmte Biotope spezialisiert sind, bekommen Probleme", sagt Settele. Andere, wie beispielsweise der Große Feuerfalter, profitieren von veränderten Umweltbedingungen und breiten sich sogar aus. "Es gibt aber mehr Verlierer als Gewinner", sagt Settele. Grundsätzlich sei eine Homogenisierung zu beobachten, also eine Abnahme der Artenvielfalt.
Untersuchungen des Entomologischen Vereins Krefeld lassen befürchten, dass es nicht nur weniger verschiedene Spezies gibt, sondern dass die Zahl der Insekten insgesamt abnimmt. Die Entomologen haben Anfang der 1980er-Jahre begonnen, an verschiedenen Standorten in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Rheinland-Pfalz und in Brandenburg Fallen aufzustellen, in denen nicht nur Schmetterlinge sondern auch Fliegen, Käfer, Wespen, Bienen und alle möglichen anderen fliegenden Insekten hängen blieben.
Als sie ihre Fänge von damals mit ihrer Ausbeute zehn bis 25 Jahre später verglichen, stellten sie fest: An manchen Stellen hat die Biomasse der gefangenen Insekten um die Hälfte, an anderen sogar um mehr als 75 Prozent abgenommen. Dieses Ergebnis lasse sich natürlich nicht auf ganz Deutschland übertragen, sagt Martin Sorg vom Entomologischen Verein Krefeld. Trotzdem ist es ein Alarmsignal. Derzeit sind die Krefelder dabei, den Inhalt ihrer Fallen, den sie in Alkohol konserviert aufbewahrt haben, genauer zu analysieren. Sie wollen unter anderem herausfinden, ob bestimmte Arten besonders stark gelitten haben oder gar ganz verschwunden sind. Die Ergebnisse sollen demnächst veröffentlicht werden.
Doch wie geht es den Insekten deutschlandweit? "Umfassende Messungen, Dokumentationen und Analysen gibt es derzeit nicht", sagt Wolfgang Wägele, Direktor des Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn. Ein Teil des Problems sei, dass es viel zu wenige Experten gibt, die die verschiedenen Arten überhaupt kennen und unterscheiden können. Allein in Deutschland gebe es etwa 9000 Mücken- und Fliegenspezies. "Niemand kann die alle unterscheiden", sagt Wägele. Die besten Fachleute sind in der Lage, zwischen 1000 und 2000 Arten auseinanderhalten. Aber wer hat schon Lust, eimerweise Fliegen und Mücken durchzusehen und zu zählen, wie viele von welcher Art vertreten sind? Genau das wäre aber notwendig, um einen Überblick zu bekommen.
Geschätzt gibt es allein in Deutschland etwa 50 000 verschiedene Arten von Insekten. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass darunter welche sind, von denen man noch nicht einmal weiß, dass sie existieren. "Neulich haben wir sogar im Garten unseres Instituts eine bisher unbekannte Mückenart gefunden", sagt Wägele. Er vermutet, dass etwa zehn Prozent aller Insekten in Deutschland noch unentdeckt sind, etwa weil sie sehr selten vorkommen, oder weil sie in schwer zugängliche Biotopen wie den Baumkronen leben. Wie soll man sich da einen Überblick verschaffen?
Eine Möglichkeit wäre, die Zählung zu automatisieren. Wägele und seine Kollegen schlagen vor, ein Netz aus Messstationen an zunächst hundert Standorten in ganz Deutschland einzurichten. "Ähnlich den Wetterstationen." Dort könnten Insekten automatisch gefangen werden. "Wir haben sogar einen Roboter entwickelt, der die Fallen regelmäßig leert", sagt Wägele. Im Labor könnte man dann anhand charakteristischer genetischer Merkmale der einzelnen Arten automatisch bestimmen, welche Spezies in den verschiedenen Proben enthalten sind.
"Auf diese Weise wären wir in der Lage, an vielen Orten gleichzeitig die Entwicklung der Insekten zu verfolgen", sagt Wägele. Um Vergleichsdaten zu haben, baut er gerade gemeinsam mit Kollegen eine Datenbank auf, in der für jede Art charakteristische genetische Merkmale gespeichert sind. Bis Ende des Jahres sollen dort genetische Charakteristika von 35 000 Arten erfasst sein. Die Wissenschaftler könnten im Prinzip sofort starten, allerdings fehlt bislang noch das Geld, um das Projekt zu finanzieren.
Auch was die Ursachen des Artenschwunds angeht, gibt es noch wenig Gewissheiten. "Das ist schon fast Voodoo", sagt Settele. "Wir ahnen, was es ist", sagt Wägele. "Aber wir können es nicht beweisen, uns fehlen die Daten." Beide Wissenschaftler meinen damit nicht, dass man tatenlos zusehen soll, bis alles ganz genau erforscht ist. "Wir müssen nach dem Vorsorgeprinzip handeln", sagt Settele.
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Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus verschiedenen Faktoren, die den Insekten zusetzen. Zu den Hauptverdächtigen gehören der Klimawandel, die Zerstückelung und Versiegelung der Landschaft, die Überdüngung mit Stickstoff und der Einsatz von Insektiziden, also Schädlingsbekämpfungsmitteln. Die allgegenwärtigen Stickstoffverbindungen stammen teilweise aus Düngern, die in der Landwirtschaft benutzt werden, vor allem aber auch aus Abgasen von Autos und Fabriken.
Über die Luft gelangen die Substanzen sogar in Naturschutzgebiete, wo sie zunächst die Vegetation verändern: Pflanzen, die auf mageren Böden gedeihen, werden von Arten wie Löwenzahn und Brennnessel verdrängt und mit ihnen eben auch die Insekten, die diese Pflanzen zum Überleben brauchen. Die meisten Insektizide wie die Neonicotinoide, kurz Neonics, gelangen über die Landwirtschaft in die Umwelt. "Sie kommen aber erstaunlich oft auch in privaten Gärten zum Einsatz", sagt Settele - oft ohne, dass den Kleingärtnern bewusst ist, dass das Mittel, das sie im Baumarkt oder im Gartencenter gekauft haben Neonics enthält. Die schädlichen Auswirkungen dieser Insektizide zum Beispiel auf Bienen und Hummeln sind erwiesen. Erst Ende Juni sind dazu zwei Publikationen in Science erschienen.
"Überraschend ist das nicht", sagt Settele. Insektizide seien schließlich entwickelt worden, um Insekten zu töten. Und die meisten dieser Chemikalien seien nicht so speziell, dass sie ausschließlich den unerwünschten Schädling beseitigen. Settele plädiert dafür, den Einsatz von Insektiziden in der Landwirtschaft zu reduzieren, und verweist auf eine Untersuchung, die Anfang des Jahres in der Fachzeitschrift Nature Plants erschienen ist. Demnach könnten mehr als drei Viertel der Bauern den Einsatz von Chemikalien deutlich verringern, ohne Verluste befürchten zu müssen.