Süddeutsche Zeitung

Artensterben im Titicacasee:Giftige Chemikalien im heiligen See der Inkas

Der legendäre Titicacasee verwandelt sich in eine biologische Todeszone. Die Folgen von Müll, Schwermetall und Klärschlamm setzen nun die Regierungen von Bolivien und Peru unter Druck.

Von Boris Herrmann

Der Zauber des Andenmeeres ist mit jedem Atemzug spürbar. So wirbt ein deutscher Reiseveranstalter für Touren zum Titicacasee. Dort oben auf 3810 Metern, wo zwischen Peru und Bolivien die Wiege der Inka-Kultur liegt, die heilige Isla del Sol, der Wallfahrtsort Copacabana, das höchstgelegene schiffbare Gewässer der Erde, da kann man tatsächlich ins Staunen geraten. Bloß das mit den Atemzügen hat so seine Tücken. Die Luft ist nicht nur dünn, sie ist an einigen Stellen inzwischen auch seltsam süßlich. Wer eine große Nase nimmt, der merkt: Irgendetwas ist faul am Titicacasee.

Wer nicht riechen will, kann es auch sehen. Mehr und mehr Küstenabschnitte sind von einem grünen Algenteppich überzogen. Vögel, Fische, Frösche treiben darin, größtenteils mit dem Bauch nach oben. Der bolivianische Biologe Arturo Muñoz Saravia, der sich seit Jahren um den Schutz dieses einmaligen Biotops kümmert, hat an einem einzigen Tag im Mai 106 Titicaca-Riesenfrösche eingesammelt. Alle tot, halbverwest.

Telmatobius culeus, wie die Biologen sagen, ist mit bis zu zwei Kilogramm Körpergewicht eine der größten Froscharten der Welt. Es gibt diese Tiere ausschließlich in dem See, nach dem sie benannt sind. Oder muss man bald sagen: Es gab sie dort?

Der Titicaca-Riesenfrosch hatte sich mit allen natürlichen Widrigkeiten arrangiert - bis der Mensch kam

Muñoz und sein Forscherteam sind einiges gewohnt, was die Wasserverschmutzung im Titicacasee betrifft, bei ihrer jüngsten Untersuchung sind sie dennoch erschrocken. "Wir haben in einem 500 Quadratkilometer großen Seeabschnitt keinen einzigen lebenden Frosch gefunden", sagt Muñoz.

Der Titicacasee ist deutlich mineral- und salzhaltiger als andere Süßwasserseen. Die Höhenluft und die geringe Sauerstoff-Konzentration haben viele hier endemische Arten einem besonderen Anpassungsdruck ausgesetzt. Der nicht wirklich hübsche Titicaca-Riesenfrosch beispielsweise atmet vor allem über seine stark gefaltete Haut und lebt ausschließlich unter Wasser, um den großen Temperaturschwankungen an Land zu entgehen. Er hat sich mit allen natürlichen Widrigkeiten arrangiert. Bis der Müll der Menschen kam, der Klärschlamm aus den Flüssen, die Schwermetalle aus den Fabriken. Nun ist das Habitat aus dem Gleichgewicht geraten. Die peruanische Zeitung La República titelte neulich: "Der Titicacasee verwandelt sich in einen Friedhof."

Auch seltene Fische, Vögel und Nutztiere sind bedroht. Am Seeufer wächst ein Schilfgras, das die peruanischen Bauern "Yachu" nennen. Es war stets die Hauptnahrungsquelle ihrer Rinder. Neuerdings mehren sich Berichte, wonach die Tiere ihr Yachu verweigern. Und wenn sie es fressen, werden sie krank. "Wenn wir nicht gegensteuern, droht dem See der biologische Tod", warnt Dirk Embert, der Südamerika-Referent vom WWF Deutschland.

Offiziell steuern die Regierungen von Bolivien und Peru seit 2006 dagegen. Damals unterzeichneten beide Länder ein Memorandum, in dem sie sich zusicherten, den See gemeinsam zu retten. Passiert ist wenig. Der Global Nature Fund kürte den Titicacasse 2012 zum "Bedrohten See des Jahres". Seither hat sich die Lage noch einmal dramatisch verschlechtert. "Das aktuelle Massensterben hat eine ganz neue Qualität", sagt Embert.

Besonders verschmutzt ist die Cohana Bucht in Bolivien. Dort sammeln sich Abwässer der knapp eine Million Einwohner zählenden Trabantenstadt El Alto, die einmal ein Vorort von La Paz war. Heute ist es einer der am schnellsten wachsenden Orte Lateinamerikas - eine Metropole mit dem Abwassersystem eines Provinzstädtchens.

Giftstoffe aus illegal betriebenen Minen

Auf peruanischer Seite ist vor allem die Bucht von Puno betroffen. Dort hat die nationale Wasserbehörde ANA vor einem Jahr ein Studie durchgeführt. Demnach konnten die Forscher in einem Gebiet von 17 Quadratkilometern keinerlei lebende Organismen entdecken. Was sie stattdessen gefunden haben: Arsen, Barium, Cadmium, Kupfer, Eisen, Quecksilber, Mangan, Phosphor, Blei und Zink.

Tausende größtenteils illegal betriebene Minen in der Region leiten ihre vergifteten Abwässer offenbar direkt in einen der 25 Zuflüsse des Sees. Boliviens Umweltministerin Alexandra Moreira sagt: "Was uns am meisten beunruhigt, ist der hohe Grad an Chemikalien. Der Schwefel-Geruch deutet darauf hin, dass sie auch aus Gerberei-Fabriken kommen."

Immerhin: Die Umweltministerin ist beunruhigt. Das ist schon einmal ein Fortschritt. Allmählich scheint sich etwas zu regen in Lima und La Paz. Am 23. Juni treffen sich die Regierungen von Ollanta Humala und Evo Morales zu einer bilateralen Kabinettssitzung. Die Staatschefs haben dafür die Stadt Puno am Titicaca-Ufer ausgesucht. Sie wollen unterstreichen, dass sie das Problem erkannt haben.

Im April versprach Perus Präsident Humala, 470 Millionen Dollar in sechs neue Kläranlagen zu investieren. Wenn alles nach Plan verläuft, könnten sie in vier Jahren ihren Betrieb aufnehmen. Bis dahin wird noch viel Blei in den heiligen See der Inka fließen.

Auch die Bolivianer wollen Kanalisationen und Kläranlagen bauen. Bis es soweit ist, sollen die Zuflüsse zunächst von Hand gesäubert werden. Es fahren neuerdings Busse aus La Paz und El Alto zu den Mündungen der Flüsse Seke und Seco hinaus. An Bord sind Freiwillige, die Müll einsammeln.

1400 Helfer haben gleich am ersten Tag vier Tonnen zusammengetragen. Darunter tote Hunde und Schafe, Ölkanister, Schuhe, verrostete Elektrogeräte. Parallel dazu hat das bolivianische Umweltministerium eine Aufklärungskampagne begonnen. "Der Müll kommt in den Eimer, nicht in den Fluss", lautet die einfache Botschaft.

Zu einfach, wie der Biologe Muñoz meint. Aus seiner Sicht ist noch nicht geklärt, ob Abfälle, Dreckwasser der Städte oder die Minen hauptverantwortlich sind für das Massensterben im Titicacasee. Oder alles zusammen. Fest steht für ihn nur: "Die Flüsse mit den Händen zu reinigen, wird das Problem nicht lösen."

Die Zusammenhänge sind noch unklar

Muñoz hält sich zurzeit in einem Labor in Belgien auf, wo er Wasserproben und Tierkadaver aus Südamerika analysiert. Mit deutlich feineren Methoden, als er sie in Bolivien zur Verfügung hat. Bei seinen Untersuchungen hat er festgestellt: "Es gibt im Titicacasee derzeit zwei Arten von Tod, einen toxischen und einen anoxischen". Einen durch Gift, einen durch Sauerstoffmangel.

Noch ist Muñoz nicht ganz klar, ob und wie beides zusammenhängt. Nach seinen Erkenntnissen breitet sich in diesem biologischen Ungleichgewicht jedenfalls der gefürchtete Chytridpilz rasch aus. Er greift das Immunsystem von Amphibien an und macht sie wohl anfälliger für Sondermüll und Schwermetalle. Vielleicht vermehrt sich der Pilz, weil die Frösche sterben. Vielleicht sterben aber auch die Frösche, weil sich der Pilz vermehrt.

Um das Problem zu entschlüsseln, sitzt Arturo Muñoz Saravia in Brüssel und versucht eiligst zu verstehen, was gerade hoch oben in den Anden geschieht. Er hofft, noch verhindern zu können, dass sich der Titicacasee in den höchsten schiffbaren Friedhof der Welt verwandelt.

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Quelle:
SZ vom 11.06.2015/mahu
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