Süddeutsche Zeitung

EU-Bericht:Schlechtes Zeugnis für Europas Natur

EU-weit sind immer mehr Tierarten bedroht. Ganze Lebensräume weisen einen schlechten Zustand auf. Die größte Bedrohung für die Artenvielfalt ist die Landwirtschaft.

Von Thomas Krumenacker

Beim Umweltschutz will sich die Europäische Union von niemandem etwas vormachen lassen. Gerade im Amt, verkündete Kommissionschefin Ursula von der Leyen im vergangenen Jahr ihren "Green Deal" und auf dem UN-Biodiversitätsgipfel vor zwei Wochen forderte sie mit Blick auf den anhaltenden Artenschwund: "Wir müssen den Teufelskreis des Untergangs stoppen." Wie groß die Hausaufgaben für die EU-Staaten auf diesem Weg sind, haben ihre Experten in zwei am Montag veröffentlichten Berichten zusammengefasst. Die im Sechs-Jahres-Turnus von der Europäischen Umweltagentur EEA und der Kommission vorgelegten "Berichte zur Lage der Natur" stellen den EU-Staaten ein schlechtes Zeugnis aus.

So ging im Zeitraum zwischen 2013 und 2018 in der EU die Zahl jener Vogelarten weiter zurück, deren Erhaltungszustand als gut bewertet wird. Das sind Arten, deren Bestände sich über viele Jahre hinweg auf einem den natürlichen Gegebenheiten entsprechenden Niveau haben halten können. Jetzt fällt nicht einmal mehr jede zweite Vogelart in diese Kategorie. Gleichzeitig stieg der Anteil der Spezies, die teils besorgniserregende Rückgänge erleben, noch einmal um sieben Prozent an - auf nun fast 40 Prozent aller Vogelarten. Rückgänge werden europaweit mittlerweile selbst für weitverbreitete Arten wie den Mauersegler verzeichnet.

Nicht besser sieht es mit anderen Tiergruppen und Lebensräumen aus. Nur gut ein Viertel der in den EU-Naturschutzgesetzen besonders geschützten Tierarten jenseits der Vögel befindet sich in einem guten Zustand. Die große Mehrheit von 63 Prozent erlebt Rückgänge oder ist sogar schon vom Aussterben bedroht.

Richtig düster wird die Analyse beim Blick auf die unterschiedlichen Lebensräume. Nur 15 Prozent der Habitate von den Alpen bis zu den Küstendünen befinden sich in einem guten Zustand, können ihre ökologischen Funktionen also voll erfüllen. Mehr als 80 Prozent sind in ihrer Funktionsfähigkeit als natürlicher Lebensraum für Tiere und Pflanzen stark geschädigt. Selbst in den Schutzgebieten, die immerhin ein Fünftel der Fläche der EU ausmachen, konnte der Verlust von Arten- und Landschaftsvielfalt nicht gestoppt werden.

Mit am schlechtesten geht es Mooren und anderen Feuchtgebieten - ausgerechnet jenen Lebensräume, die reich an Tier- und Pflanzenarten sind und gleichzeitig als Speicher für Kohlenstoff eine wichtige Rolle im Klimaschutz spielen. Eine leichte Verbesserung machten die Experten beim Zustand der Wälder aus.

Deutschland ist im Vergleich zu anderen EU-Staaten weit davon entfernt, als Musterschüler zu gelten. Nur in Portugal ist der Trend zu einer weiteren Verschlechterung bei den ohnehin schon schwer beschädigten Lebensräumen noch größer.

Der mit Abstand stärkste Druck auf die Natur geht den Berichten zufolge von der Landwirtschaft aus. Die immer intensivere Nutzung der Böden, das Entfernen von Hecken und "wilden Ecken" und der Einsatz von Pestiziden werden als stärkste Bedrohung für die Artenvielfalt angesehen. Mit deutlichem Abstand folgen Faktoren wie der Landverbrauch für neue Gebäude und Infrastruktur, Belastungen durch Freizeitaktivitäten und Tourismus und eine unökologisch betriebene Forstwirtschaft als Hauptbedrohungen der lebendigen Vielfalt in der EU. Die Folgen des Klimawandels spielen dagegen bislang unter den Top Ten der Bedrohungsfaktoren die geringste Rolle. Dies werde sich aber bald ändern, vermuten die Experten.

"Wir stecken in einer tiefen Biodiversitätskrise mit einer zerstörerischen Landwirtschaft in ihrem Zentrum", kommentiert Ariel Brunner vom Dachverband der Naturschutzorganisationen Birdlife International. "Ganze Arten werden durch eine unerbittliche und von Subventionen angetriebene Intensivierung der Landwirtschaft schonungslos in Richtung Aussterben getrieben."

Auch EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius äußerte sich besorgt über die Befunde. Sie zeigten, "dass wir unser überlebenswichtiges natürliches Netzwerk verlieren", sagte er und forderte: "Wir müssen bei der Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie jetzt liefern."

Im Mai dieses Jahres hatte sich die EU-Kommission im Rahmen ihres "Green Deal" zum ökologischen Umbau der Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, den Niedergang der Natur bis 2030 zu stoppen. Dazu sollen je 30 Prozent der Land- und Meeresfläche unter Schutz gestellt und großangelegte Renaturierungsprojekte für Flüsse und Wälder auf den Weg gebracht werden. Für den Naturschutz sollen 20 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung stehen.

Bislang ist die Strategie aber nur ein Entwurf der Kommission. Am Freitag wollen die EU-Umweltminister entscheiden, ob sie das Programm mittragen, von dem auch Naturschützer glauben, dass es das Potenzial habe, den freien Fall der natürlichen Vielfalt aufzuhalten. Derzeit laufen die letzten Abstimmungen. In Kreisen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gibt man sich optimistisch, dass ein Durchbruch gelingt. Es sehe danach aus, als werde die Kommission kräftigen Rückenwind für ihr Vorhaben bekommen, hieß es.

Einer der wichtigsten Punkte wurde aber ausgeklammert: Die auch vom Europäischen Parlament unterstützte Forderung, künftig zehn Prozent aller Ausgaben in der EU für den Schutz der natürlichen Vielfalt zu verwenden, wird im Rahmen der Finanzverhandlungen gesondert behandelt.

Zugleich steht diese Woche noch eine weitere wichtige Weichenstellung für die Zukunft der Artenvielfalt in der EU an. Die Landwirtschaftsminister und das Europaparlament entscheiden über ihre Positionen bei der künftigen Mittelverteilung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Die Kommission sieht für die kommenden sieben Jahre 365 Milliarden Euro für die Landwirtschaft vor, fast 30 Prozent des Gesamthaushalts. Naturschädliche Subventionen aus dem GAP-Topf aber gelten als Haupttreiber des Artenverlusts.

Zuletzt hatte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina an die Staatengemeinschaft appelliert, künftige Zahlungen an Landwirte an umweltschonende Bewirtschaftung zu knüpfen. "Die Wissenschaft zeigt uns, dass nur eine Umkehr in der Förderpraxis die Wende der Artenkrise bringen kann", sagt auch Birdlife-Agrarexpertin Harriet Bradley: "Wir hoffen, die Abgeordneten nehmen die Berichte ernst und unterstützen einen Green Deal, für den eine Mehrheit der Europäer gestimmt hat."

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