Für Reptilien gibt es einen, für Amphibien und natürlich auch für Vögel und Säugetiere: einen Überblick, wie stark diese Tierklassen weltweit bedroht sind. Bei Süßwasserorganismen klaffte hingegen bislang eine riesige Wissenslücke. Erst jetzt hat ein internationales Team untersucht, wie es den Tieren in Flüssen, Seen und anderen Süßgewässern geht. Das Ergebnis ist erschreckend: „Fast ein Viertel der Süßwasserorganismen ist vom Aussterben bedroht“, sagt Jörn Geßner vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin, der an der Studie beteiligt war.
Seltsamerweise habe sich lange Zeit niemand so richtig für das Thema interessiert, schreiben die Autorinnen und Autoren der Untersuchung, die in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature erschienen ist. Es sei das bekannte Phänomen, dass Tiere, die unter Wasser leben und deshalb für den Menschen weniger sichtbar sind, weniger Aufmerksamkeit bekommen, sagt Geßner.
Und das, obwohl Süßwasser ein äußerst artenreicher und extrem wichtiger Lebensraum sei – nicht zuletzt auch für den Menschen. Zehn Prozent aller bekannten Tierarten leben dort, darunter ein Drittel aller bekannten Wirbeltiere und die Hälfte aller bekannten Fischarten. Dabei bedecken Flüsse, Seen und andere Süßgewässer nur etwa ein Prozent der Erdoberfläche. Zum Vergleich: Meere bedecken 70 Prozent. Der Rest ist Festland.
„Dass es den Süßwassertieren quer über das ganze Artenspektrum hinweg so schlecht geht, ist ein dramatisches Signal“, sagt Fließgewässerökologe Geßner. Es bedeute, dass der ganze Lebensraum schwer geschädigt ist und dass „wir fleißig dabei sind, unsere Lebensgrundlage zu zerstören“. Intakte Süßgewässer sind nämlich nicht nur für den Artenschutz wichtig, sondern auch für viele Aspekte, die den Menschen unmittelbar betreffen: die Trinkwasserversorgung zum Beispiel und den Schutz vor Überschwemmungen.
Etwas ist grundsätzlich aus dem Gleichgewicht geraten
Für ihre Studie untersuchten die Forschenden 23 496 Spezies: Fische natürlich, aber auch Zehnfußkrebse wie Süßwassergarnelen und Süßwasserkrabben sowie Libellen, deren Larven im Süßwasser leben. Als Basis diente ihnen die Rote Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN). Um herauszufinden, welche Süßwassertiere besonders stark bedroht sind, analysierten sie die Daten nach verschiedenen Kriterien, die das Aussterben einer Art wahrscheinlich machen, ein Rückgang der Individuenzahl und ein kleines Verbreitungsgebiet zum Beispiel. Am stärksten bedroht sind der Studie zufolge die Zehnfußkrebse, bei denen 30 Prozent der untersuchten Arten vom Aussterben bedroht sind. Bei den Süßwasserfischen sind es 26 Prozent und bei den Libellen 16 Prozent.
So erschreckend das Ergebnis ist, die Forschenden haben es angesichts des dramatischen Lebensraumverlusts für Süßwasserorganismen bereits befürchtet: Feuchtgebiete etwa verschwinden der Studie zufolge weltweit dreimal schneller als Wälder. Zwischen 1970 und 2015 gab es einen Schwund von 35 Prozent. Auch die Qualität der Süßgewässer werde immer schlechter, zum Beispiel durch Verschmutzung. Süßgewässer befinden sich in der Regel in Senken, in denen sich nicht nur das Wasser, sondern auch alle möglichen Schadstoffe wie Überreste von Pestiziden und Dünger sammeln.
„Auch Flüsse sind extrem stark geschädigt“, sagt Geßner. Nur wenige hätten noch einen natürlichen Verlauf, weil sie etwa für die Schifffahrt begradigt und vertieft worden seien. Ein großes Problem für die Biodiversität sind nach Ansicht von Geßner auch Wasserkraftwerke. Die Dämme, mit deren Hilfe das Wasser aufgestaut wird, veränderten oft das ganze Ökosystem und „machen aus einem fließenden Gewässer ein stehendes“. Außerdem unterbrächen sie die Wanderung von Fischen wie dem Aal, der aus den Flüssen in die Sargassosee wandert, um dort zu laichen. Trotz Aufstiegshilfen gerieten viele Tiere in die Turbinen und sterben.