Arktis:Freie Fahrt durchs Eismeer

Arktis: In der Arktis werden womöglich bald deutlich mehr Schiffe unterwegs sein.

In der Arktis werden womöglich bald deutlich mehr Schiffe unterwegs sein.

(Foto: Gerald Haenel/laif)

Weil das Eis in der Arktis schmilzt, entstehen neue Handelsrouten für Schiffe. Vor allem Russland hofft auf den Aufschwung entlang der Nordostpassage, doch Umweltschützern bereitet der Boom große Sorgen.

Von Susanne Götze

Lange hat die Menschheit eine der unwirtlichsten Gegenden des Planeten in Ruhe gelassen. Nur wenige Abenteurer und Forscher wagten sich in die menschenfeindliche Kälte. Das ewige Eis blieb unberührt, und relativ unbehelligt von der Gier nach Rohstoffen und Lebensraum. Doch das ändert sich. In 30 Jahren schon, prophezeien britische Wissenschaftler der University of Reading, würden doppelt so viele Schiffe die Arktis passieren können wie heute - und das auch ohne Eisbrecher. Übersteigt die globale Durchschnittstemperatur das magische Zweigradlimit, könnten bis Ende dieses Jahrhunderts ganzjährig Schiffe von Europa über den arktischen Seeweg nach Asien fahren. Wird die abgeschiedene Region bald zum Verkehrsknotenpunkt?

Sicher ist, dass das Eis sich zurückzieht, selbst viele Forscher sind überrascht von dem Tempo der Veränderungen. In diesem Winter hatte die Arktis die geringste Eisfläche seit Beginn der Messungen im Jahr 1979. "Die Ausdehnung des Meereises schrumpft seit Jahren, und auch die Dicke des Eises geht zurück", bestätigt Volker Rachold, Leiter des Arktisbüros in Potsdam, der die Bundesregierung seit zwei Monaten als eine Art Arktisbeauftragter berät. Betrieben wird das Büro zwar von Forschern des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung, ins Leben gerufen wurde es jedoch vom Auswärtigen Amt. Denn auch die Bundesregierung will Deutschlands "politische Rolle in Arktis-Angelegenheiten stärken", wie es bei der Gründungsmitteilung im Februar hieß.

Ein deutsches Forschungsschiff soll sich ein Jahr lang mit der Eisströmung treiben lassen

"Früher bestand das Eis aus einer dicken Schicht alten Eises aus den Vorjahren; mittlerweile haben wir es überwiegend mit einjährigem Eis zu tun", sagt Rachold. Allerdings gebe es keine geradlinige Evolution bis zur kompletten Eisfreiheit, sondern vielmehr ständige Wechselwirkungen zwischen natürlichen Wetterschwankungen und menschengemachter Klimaerwärmung.

Um diese komplexen Verhältnisse besser zu verstehen, stechen Forscher des Alfred-Wegener-Instituts im Herbst 2019 mit einem Forschungsschiff in See: Die Polarstern soll ein Jahr lang mit der natürlichen Eisströmung - auch Transpolardrift genannt - treiben, von Sibirien über den Nordpol bis nach Grönland. Die Daten der Reise wertet Volker Rachold mit aus. Das Interesse von Deutschland ist laut Rachold dabei rein wissenschaftlich. Als Nichtanrainer hat die Bundesregierung ohnehin keinen Anspruch auf eventuelle Rohstoffe, Häfen oder Verkehrsrouten.

Ganz anders verhält es sich mit dem größten Anrainer der Arktis: Russland. Insgesamt wird das Land nach Schätzungen der Universität Lappland von 2010 bis 2020 mehr als drei Milliarden Euro in die Infrastruktur der Nordostpassage stecken - militärische Investitionen nicht mitgezählt. Das Land besitzt mit vier Atom-Eisbrechern die stärkste Flotte der Welt, ein fünfter soll Anfang nächsten Jahres seinen Dienst aufnehmen, zwei weitere sind in Planung. Die Russische Akademie der Wissenschaften rechnet sich eine vielversprechende Zukunft aus, sie glaubt an eine Verzehnfachung des Güterverkehrs von heute sieben auf 75 Millionen Tonnen im Jahr 2025.

Nordostpassage

"Russland hat ein großes Interesse daran, den Seeweg für den Waren- und Rohstoffverkehr attraktiv zu machen", sagt Rachold. Das schmelzende Eis mache es möglich. Allerdings seien die Risiken immer noch zu hoch, die Infrastruktur zu schwach. Rachold hat lange Zeit in Sibirien gearbeitet und den Niedergang nach 1990 miterlebt: "Der sibirische Hafen Tiksi hat in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 60 Prozent seiner Einwohner verloren. Wenn die Russen die Route wieder fit machen wollen, müssen sie zuerst die Infrastruktur wiederherstellen."

Niemand weiß, was zu tun ist, wenn ein Öltanker in der Arktis verunglückt

Erst 2009 passierten erste Handelsschiffe die Barentssee, die Karasee und die ostsibirische See bis zum Beringmeer nach Asien. Zwar sind in arktischen Gewässern wie der Barentssee heute so viele Schiffe wie noch nie unterwegs - 2016 immerhin 420 Containerschiffe mit einer Ladung von zusammen rund fünf Millionen Tonnen. Doch die eigentliche Herausforderung ist nicht der Binnenverkehr in der Arktis, sondern der Weg von Europa nach Asien - beispielsweise vom norwegischen Kirkenes nach Shanghai. Hier bewegt sich trotz des schmelzenden Eises wenig: Nur 19 Schiffe legten im letzten Jahr den gesamten Weg von der Barentssee bis zum Beringmeer zurück. Die übliche Transitstrecke über den Suezkanal in Nordafrika passieren jährlich rund 17 000 Containerschiffe.

Bei Gefahren ist die Besatzung auf sich allein gestellt

Die Nordostpassage ist zwar rund 7000 Kilometer kürzer als der Seeweg über den Suezkanal, doch die Unsicherheiten und klimatischen Bedingungen lassen die Kosten in die Höhe schnellen: Schlechte Eisvorhersagen, unberechenbares Wetter und fehlende Rettungsdienste schrecken ab. Auch präzise Karten des Meeresgrunds fehlen. Um die Risiken wenigstens etwas beherrschbar zu machen, hat die UN-Schifffahrtsorganisation sich auf einen Polarcode geeinigt, der Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist.

Aber die Regelungen darin machen erst recht deutlich, wie ungemütlich und gefährlich Schifffahrt im hohen Norden selbst im Sommer noch immer ist: Spezielles Eis-Training für die Crew wird vorgeschrieben, Rettungspläne, Feuerlöscher, die in der Kälte funktionieren, Vorkehrungen für extremes Wetter. Sollte etwas passieren, ist die Besatzung weitgehend auf sich gestellt, Rettungsmannschaften erreichen Schiffe im Zweifel zu spät oder gar nicht.

"Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die Nordostpassage für den Transitverkehr so schnell zu einer Alternative zum Suezkanal wird", glaubt die russische Politikwissenschaftlerin Vilena Valeeva, die am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam arbeitet. Absehbar sei allerdings eine Zunahme der Schifffahrt insgesamt in arktischen Gewässern, vor allem wegen der Rohstoffexporte. Schon heute entfällt mehr als die Hälfte des Arktisgüterverkehrs auf den Transport von Öl, Ölprodukten und Flüssiggas.

Umweltschützer warnen vor steigenden Risiken

Im Städtchen Sabetta auf der Halbinsel Jamal, 500 Kilometer nördlich des Polarkreises, baut Russland bereits an einem neuen LNG-Terminal, von dem aus von diesem Jahr an verflüssigtes Erdgas aus den sibirischen Gasfeldern über die Nordostpassage verschifft werden soll. Doch dafür braucht es eine neue Generation von Flüssiggastankern, die mit den wechselnden Bedingungen im Norden zurechtkommen. Das erste große Exemplar dockte nach letzten Tests im März in Sabetta an: Christophe de Margerie, ein 299 Meter langer, 60 Meter hoher Tankerriese. Das neue Schiff hat die höchste Eisklasse zugeteilt bekommen, ARC7, es ist praktisch Eisbrecher und Tanker in einem und soll mit bis zu zwei Meter dickem Eis zurechtkommen. Ein Trick solcher Schiffe: In offenem Wasser fahren sie vorwärts, dickem Eis hingegen können sie das eisbrecherartig verstärkte Hinterteil zuwenden und rückwärts hindurchsteuern. Das macht die Schiffe eisfest, ohne im offenen Wasser allzu schwerfällig zu sein.

Umweltschützern jedoch macht der Rohstoffboom entlang der Nordostpassage große Sorgen. Im Februar lief die Bohrplattform Songa Enabler der Firma Statoil aus, die im Fjord in der Nähe von Tromsø überwinterte. Im hohen Norden vermutet die norwegische Regierung besonders große Ölvorkommen. Es ist das erste Mal, dass die norwegische Regierung Bohrlizenzen so hoch im Norden vergibt. Das Risiko für Unfälle sei in dieser Region durch die unwirtlichen Bedingungen besonders hoch, kritisiert Greenpeace.

"Wenn in Regionen wie der Arktis ein Öltanker verunglückt, ist das eine nie dagewesene Katastrophe: Wir haben keinerlei Technik und Erfahrung darin, bei Eisbedeckung das Meer zu reinigen", warnt auch Volker Rachold. Der Abbau des Öls durch Bakterien sei wesentlich weniger effektiv als bei warmen Temperaturen, sodass das Öl lange Zeit im Urzustand bleibe und das Ökosystem verschmutze. Mehr Schiffe stoßen zudem auch mehr Ruß aus, der sich dann auf den Schnee legt, wodurch dieser weniger Sonnenlicht reflektiert und damit schneller schmilzt. Die offene Nordostpassage, von der die Anrainer träumen, könnte so nicht nur die Rohstofftransporte beschleunigen - sondern auch den Untergang des Ökosystems Arktis.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: