Arktis:Bald eisfrei

Nie gab es so wenig Meereis am Nordpol wie in diesem Jahr. Der Rückgang ist dramatisch - und kaum ein Klimaforscher zweifelt noch daran, dass die Arktis in einigen Jahrzehnten im Sommer eisfrei sein dürfte. Das hat weitreichende Folgen für das Wetter, die Schifffahrt und die maritime Nahrungskette.

Christopher Schrader

Vielleicht ist man in Hamburg einfach näher dran. Die Hansestadt ist die nördlichste der deutschen Metropolen, und wenn arktische Kaltluft vom Pol kommt, frieren ihre Bürger etwas früher als Münchner, Berliner oder Kölner. Außerdem hat Hamburg einen Seehafen und könnte in Zukunft Frachter in seiner Stadtmitte begrüßen, die von Tokio durch das eisfreie Polarmeer nach Europa gefahren sind.

Wind patterns are left in the ice pack that covers the Arctic Ocean north of Prudhoe Bay, Alaska

Eisschichten bedecken das Polarmeer - doch vielerorts befinden sich jetzt nur noch Bruchstücke. Die Folgen für Klima und Tierwelt beschränken sich nicht nur auf die Region, sondern wirken sich weltweit aus.

(Foto: REUTERS)

Jedenfalls ist die Stadt an der Elbe ein guter Ort, um darüber zu sprechen, was gerade in der Arktis passiert - und was es für die Zukunft bedeutet. Darum haben hier am Mittwoch Fachleute von fünf Forschungsinstituten und einer Behörde eine Pressekonferenz zum Thema gegeben.

Was gerade passiert, könnte man ohne Übertreibung historisch nennen. Am Nordpol erreicht die Eiskappe in diesen Tagen ihr alljährliches Minimum - und diesmal ist sie während der Schmelzsaison unerwartet stark geschrumpft.

"Wir kommen anhand der Satellitenmessungen zurzeit auf eine Ausdehnung des Meereises von 3,27 Millionen Quadratkilometern", sagt Georg Heygster von der Universität Bremen, der mit seinem Team regelmäßig Eiskarten erstellt. Ob es in diesem Jahr noch weniger wird oder nicht: Der alte Minusrekord aus dem Jahr 2007 ist bereits jetzt um eine Fläche unterboten, die fast der Größe Deutschlands und Frankreichs entspricht.

Zudem hat sich die Stabilität des Eises in den vergangenen Jahren offenbar dramatisch geändert. "Das dicke mehrjährige Eis der Arktis wird zunehmend durch dünnes erstjähriges ersetzt", sagt Lars Kaleschke von der Universität Hamburg. Schätzungen besagen, dass innerhalb eines Jahrzehnts aus 2,5 Metern Dicke im Mittel ein Meter geworden ist. Die Werte werden vom Forschungsschiff Polarstern bestätigt, das zurzeit in der zentralen Arktis Werte um 90 Zentimeter registriert.

Das Geschehen nördlich des Polarkreises ist für Mitteleuropa mehr als ein Kuriosum, sagt Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven (AWI): "Man braucht gar nicht zu fragen, ob das zurückgehende Eis das Wetter beeinflusst. Sondern eher: Wie könnte es nicht?"

Wo blaues Wasser im Sonnenlicht schimmert statt weißes Eis, wird die Energie der Strahlen absorbiert und nicht mehr reflektiert. Das Meer wärmt sich auf, was nicht nur das Abschmelzen beschleunigt, sondern auch das Abkühlen im Herbst bremst.

"Simulationen zufolge gibt das Wasser im Oktober 60 Watt Wärme pro Quadratmeter an die Atmosphäre zurück", sagt Gerdes. Die Wärme führt dazu, dass sich die Luftdruckunterschiede zwischen Polarregion und Subtropen abschwächen, also der Motor des Wetters. Außerdem weht der Jetstream schwächer.

Folgen in Europa zu spüren

Die möglichen Folgen kennen die Europäer schon. Wenn eine Wetterlage, die arktische Kaltluft nach Europa leitet, nicht weiterwandert, erleben England, Frankreich und Deutschland eben eine Kältewelle. Das Umgekehrte passiert, wenn ein Frontensystem blockiert wird, dass warme Luft aus dem Süden heranbringt. So kam es im Sommer 2010 zur Hitzewelle in Russland mit den gewaltigen Waldbränden.

Auch die fischreichen Gewässer der Arktis könnten unter dem Eisschwund leiden. "Die Algen, die unten im Eis leben, sind eine wichtige Nahrungsquelle für die Meerestiere der Region", sagt Gerdes. Das ganze Nahrungsnetz bis hinauf zu Robben und Eisbären könnte aus den Fugen geraten, wenn sich die Polarkappe weiter verkleinert. Dass der Rückgang schon Effekte zeigt, bestätigt Antje Boetius, die als Fahrtleiterin auf dem AWI-Schiff Polarstern unterwegs ist. "Unter den Eisflächen sehen wir - auch am Meeresboden in 4000 Metern Tiefe - viel mehr wohlgenährte Meerestiere als in Bereichen, die schon zwei Monate im offenen Wasser liegen."

Für die Schifffahrt könnte die Arktis in Zukunft aber interessant werden, wenn sich regelmäßig im Sommer - wie dieses Jahr und in einigen zuvor - die Nord-Ost- und Nord-West-Passagen öffnen. Die Seewege nördlich von Sibirien sowie von Kanada und Alaska erlauben um einige Tausend Kilometer kürzere Verbindungen nach Asien und an die Westküste Amerikas.

Attraktiv werde besonders der nordöstliche Seeweg, sagt Jürgen Holtorf vom Eisdienst des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrografie in Hamburg, wenn Schiffe nicht mehr auf die russischen Hoheitsgewässer und damit die teure Begleitung durch Eisbrecher angewiesen seien. "Aber die Region ist schlecht kartografiert und relativ flach", warnt er. Seine Behörde bereitet sich mit Diensten anderer Länder schon darauf vor, in Zukunft Frachter in der Arktis vor den immer noch herumtreibenden Eisbergen warnen zu können - und untaugliche Schiffe und Besatzungen aus dem Seegebiet fernzuhalten.

Was den Eisschwund auslöst, können Forscher nicht in allen Einzelheiten erklären. Womöglich spielen natürliche Variationen eine Rolle. Sie lassen zum Beispiel den Anteil von Packeis schwanken, das durch die Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen aus dem Polarmeer in den Nordatlantik gespült wird.

Entscheidend für den Eisschwund ist den Forschern zufolge jedoch das Kohlendioxid, das die Erwärmung der Atmosphäre auslöst. Für Judith Curry vom Georgia Institute of Technology in Atlanta, die sich als Klimaforscherin um differenzierte Erklärungen ohne alarmistische Töne bemüht, liegt der Anteil der Treibhausgase bei 50 Prozent. "Ohne die globale Erwärmung lässt sich der Rückgang des Meereises jedenfalls nicht erklären", sagt auch Dirk Notz vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg.

Kaum ein Klimaforscher zweifelt darum noch daran, dass die Arktis in einigen Jahrzehnten im Sommer eisfrei sein dürfte. Manche Wissenschaftler tippen auf das Jahr 2015, andere schätzen, dass es noch zehn bis 15 Jahre dauert. Dirk Notz spricht zurückhaltend von der Mitte des Jahrhunderts. "Genauer kann man es seriös nicht sagen. Wir wissen ja auch bei einem Baum im Herbst nicht, an welchem Tag er sein letztes Blatt verlieren wird." Nur dass er sie alle verliert.

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