Am Ende des Stollens warten die Touristen. Sie tragen Overalls mit wattierten Hinterteilen - Pflichtbekleidung auf der Grubenrutsche im Schaubergwerk. Sie stehen einen halben Kilometer tief im Fels und warten auf den kleinen Zug, der sie abholen und zurück ins Freie bringen soll. Nun rollt er heran - und Martin Kunze sitzt darauf.
Ein bulliger Mann mit rotem Bart, 49 Jahre alt, ein bisschen sieht er aus wie der Schauspieler Russell Crowe. Die Touristen filmen mit ihren Handys, wie er vom offenen Zug klettert, dann sitzen sie selber auf, die kostümierte Fremdenführerin ruft "Glück auf!", und hinaus geht es, ans Licht. Kunze bleibt im Berg. Bei seinem Archiv. Er hat es im Touristenbergwerk untergebracht.
Noch sieht es nicht gerade überwältigend aus. Etwa fünfzig tönerne Behälter im Format von Blumenkästen, aufeinandergestapelt in einer ausgesprengten Ecke des Salzstollens. Aber Kunze, Keramiker, Künstler und Begründer des Menschenerinnerungsprojekts MOM, ist glücklich, als er mit dem Auspacken anfängt. "Das ist der Anfang. Es hat begonnen."
Hallstatt im Salzkammergut, Oberösterreich. Hier fanden Archäologen früheste Zeugnisse menschlicher Existenz. Der Pickel aus Hirschgeweih, geborgen im Jahr 1838 - er stammt aus der Jungsteinzeit, ist rund 7000 Jahre alt. Und das Gräberfeld, das einer ganzen Epoche den Namen Hallstattzeit verlieh; es ist aus dem frühen ersten Jahrtausend vor Christus, der vorrömischen Eisenzeit.
Auch in Zukunft soll hier wieder etwas zu finden sein. Martin Kunze legt Material für die nächste Schicht. Im Bauch des Bergs errichtet er eine Zeitkapsel für die wirklich ferne Nachwelt, das Memory-of-Mankind-Archiv, kurz: MOM. Es soll Archäologen der Zukunft Auskunft geben darüber, wer wir waren, wenn unsere Bibliotheken zu Staub zerfallen und unsere Festplatten unlesbar geworden sind, ja vielleicht wenn der Mensch selber weg ist und die nächste intelligente Lebensform mit dem Planeten spielt, in Hunderttausenden von Jahren. "Wer nicht mitmacht, hat nie existiert", lautet das Projektmotto.
Eingelagert werden Texte, Bilder. Wie aber auswählen? Was soll bewahrt werden für die Zeit nach dem Atomkrieg, der Flut, der Menschenverdampfung? Die Bibel? Das Kommunistische Manifest? Die Mona Lisa? "Mein Kampf"? "Der Herr der Ringe"? Tante Trudels Rezept für Nudelauflauf an Morchelsauce? Die erste Tontafel, die Kunze aus seinen Kisten zieht, zeigt ein Hochzeitspaar: Tessa und Alex, getraut in Brentwood, Essex, 1. Mai 2015. Die beiden lächeln, an ihrer Seite stehen ein Mann und ein Bub in Lederhosen, warum, das weiß man nicht. Es ist eine Badezimmerfliese im Format 20 auf 20 Zentimeter, 600 Gramm schwer, frontseitig bedruckt mit Text und Farbbildern, in einer Kopfzeile stehen Katalognummer, Sprachkürzel und eine Rubrik, hier: "privat". Das Material ist glasierter Ton, von Kunze selbst in einem Verfahren bedruckt, das für Firmen entwickelt wurde, die ohne teuren Siebdruck Logos auf Kaffeetassen bringen wollen. Unempfindlich gegen Licht, Wasser, Chemikalien, hitzebeständig bis 1200 Grad Celsius. Schütze man die Tafeln vor Abrieb, Sand und Wind, so hielten sie "über eine Million Jahre", sagt Kunze. Und selbst wenn sie brechen, bleiben sie lesbar; Scherben zusammensetzen ist das Geschäft des Archäologen.
Ein naturhistorisches Museum hat seine hundert wichtigsten Objekte zur Verfügung gestellt
Was der Ausgräber der Zukunft finden wird, sind Tessa und Alex, Hochzeitspaar. Und auf der zweiten Tafel: einen ausgestopften Schneeleoparden, Artefakt Nummer 95 des Naturhistorischen Museums Wien. Die Museumsleitung hat dem MOM-Archiv ihre hundert wichtigsten Objekte zusammengestellt. Im MOM vermischt sich das Private, Triviale mit dem akademischen Kanon - etwa gar zufällig? "Es wird auf alle Fälle bunt", sagt der Chef.
Tontafeln haben sich als Trägermaterial bewährt. Die Kultur der Sumerer ist vergangen, doch ihre Keilschrift bleibt lesbar, nach über 5000 Jahren. Tontafeln versprechen Ewigkeit. Martin Kunze hat an der Kunsthochschule Linz studiert und betreibt mit seiner Frau eine Keramikwerkstatt eine Stunde von Hallstatt entfernt. Während der Arbeit dachte der Keramiker über sein Lieblingsthema nach: Speichermedien, Festhalten und Weitergeben. Und wurde immer unruhiger dabei.
Denn unsere Zeit ist die der Digitalisierung: Nationalbibliotheken, Stadtarchive, Plattensammler, Fotokünstler - alle sind sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts damit beschäftigt, ihre Schätze in Einsen und Nullen zu übertragen. Alles soll ins Netz und so besser und länger nutzbar sein. Vieles Neue erhält gar keine feste Form mehr, sondern wird nur noch digital archiviert - als PDF, MP3, JPG.
Aber ist das nachhaltig? Digitale Bestände veralten schnell; das Problem beschäftigt die besten Archivare der Welt: In den National Archives der USA sind ganze Abteilungen unlesbar geworden und bei der Raumfahrtbehörde Nasa wichtige Informationen aus den frühen Jahren verloren gegangen. Wer genug Geld und Personal hat, kann dem Datenverlust vorbeugen. Digitale Bestände sind sicher, solange man sie wartet, also regelmäßig auf Lesbarkeit prüft und bei Bedarf auf neue Träger kopiert, die Formate umwandelt. Digitale Aufbewahrung ist deshalb nicht billiger, sondern eher aufwendiger: Papier kann man liegen lassen, wenn die Temperatur 18 Grad und die Luftfeuchtigkeit etwa 45 Prozent beträgt. Digitale Bestände aber geben zu tun, ständig. Nicht jedes Land hat die Ressourcen dafür. Und im Falle eines Krieges oder einer Umweltkatastrophe wird für solche Wartung keine Zeit und Kraft mehr sein. Dann verschwindet alles. MOM-Begründer Martin Kunze ist sich sicher: Künftige Archäologen werden wenig Schriften von uns finden. Am ehesten noch den Ikea-Schriftzug, immer wieder hinten auf Tellerscherben und gusseisernen Pfannenböden. Wir werden die Ikea-Zivilisation sein.
Angefangen hat Kunze vor fünf Jahren. Der damalige Chef der Salinen Austria hat ihn gleich verstanden und ihm einen Platz im Berg angeboten. Ein Vertrag hält fest, dass das Archiv bleiben darf - auch dann, wenn eine neue Firma das Bergwerk übernimmt. Die Salinen Austria waren bis vor 20 Jahren ein Staatsbetrieb, heute betreiben sie den Salzabbau und die Schaubergwerke privat.