Architektur:Gewaltige Mauer im Meer soll Jakarta retten

Jakarta Sea Wall

"The Great Sea Wall" hat die Form eines mythischen Vogelwesens, des Garuda - bislang jedoch nur als Computersimulation.

Die indonesische 10-Millionen-Metropole versinkt, eine Sturmflut könnte sie in eine Katastrophenzone verwandeln. Nun soll "The Great Sea Wall" die Stadt vor dem Untergang bewahren.

Reportage von Arne Perras, Jakarta

Die Materie ist kompliziert. Aber Victor Coenen hat die Gabe, Zusammen-hänge plastisch zu erklären, so dass es eigentlich ganz leicht zu verstehen ist. "Sie müssen sich vorstellen", sagt der hochgewachsene Niederländer: "Der Boden unter uns ist ungefähr so beschaffen wie Joghurt." Wäre alles gar kein größeres Problem. "Aber wenn Sie anfangen, dem Joghurt stetig Wasser zu entziehen, dann schrumpft er mächtig zusammen."

Genau das geschieht seit Jahren in der indonesischen Hauptstadt Jakarta. Aus zahllosen Brunnen pumpen Millionen Bewohner ihr Wasser nach oben. Und das hat Folgen: Die Stadt sinkt und sinkt. Und nun drängt sich immer stärker die Frage auf: Kann die Stadt auf Dauer überleben? Ist Jakarta noch zu retten?

Erkundungen im Norden der Metropole: Die tropische Sonne brennt vom Himmel, eine leichte Brise weht vom Meer herüber, doch sie verschafft kaum Linderung. Die Luft schmeckt nach Salz, durchsetzt mit einem Hauch von faulendem Fisch. Der Niederländer Coenen läuft eine Gasse entlang und klettert links hinauf auf eine schmale Mauer, die das Land vom Wasser trennt. Er betrachtet diese Stadt mit den Augen eines Ingenieurs, und was er im Stadtteil Pluit sieht, ist alarmierend: Im Norden schillert der Ozean, er wirkt jetzt ganz zahm, die Wellen plätschern und glitzern im grellen Mittagslicht. Aber alle in Jakarta wissen: Das Meer kann auch anders.

So viele Probleme: Berge von Müll, Fluten aus ungeklärtem Abwasser, nervtötender Dauerstau

Im Süden schweift Coenens Blick über die weite Stadt, die schneller wuchert, als es die meisten Metropolen tun. Vor 50 Jahren lebten in Jakarta etwa vier Millionen Menschen, nun sind es bereits zehn Millionen, und wenn man das gesamte Ballungsgebiet im Nordwesten Javas einrechnet, kommt man auf 30 Millionen. Es ist nach Tokio-Yokohama die zweitgrößte Metropolregion der Welt. Wenige Städte sind so dicht besiedelt wie Jakarta, und im Laufe der Jahrzehnte haben sich viele Probleme angesammelt, mit denen die Stadt nur schwer fertig wird. Berge von Müll, Fluten aus ungeklärtem Abwasser, nervtötender Dauerstau auf den Straßen. Und nicht zu vergessen: Ein Boden, der sich immer weiter absenkt. "Ich sage nur: Joghurt." Experte Coenen vom Ingenieursbüro Witteveen+Bos kommt nun wieder zum Kern des Problems zurück. Er erklärt, dass manche Gebiete schon drei Meter unterhalb des Meeresspiegels liegen. Vor 50 Jahren hingegen überragte der Boden in Pluit noch das Meer. Derzeit geht es pro Jahr 7,5 Zentimeter abwärts, an manchen Stellen sind es sogar 25 Zentimeter.

Wie aber rettet man eine Megacity vor dem Untergang? Jakarta hat einen Plan, wenn auch einen, um den viel gestritten wird: Große Probleme erfordern große Lösungen, hört man manche sagen. Und was Indonesien für seine Hauptstadt Jakarta ins Auge gefasst hat, ist wahrlich gewaltiger als alles, was andernorts bislang gebaut wurde: Sie nennen das Projekt: "The Great Sea Wall". Eine gigantische Mauer draußen in der Bucht, die Jakarta vor Fluten schützen soll. 32 Kilometer lang und 22 Meter hoch, wobei 15 Meter unter der Wasseroberfläche liegen.

Bollwerk in Form eines mythischen Wesens

Erhebt man sich in die Lüfte, zumindest virtuell, so lässt sich das Vorhaben aus der Vogelperspektive schön betrachten. Das digitale Modell zeigt mehr als eine große Mauer, draußen in der Bucht. Ins Auge sticht eine ganz neue Welt zwischen Land und Meer, Jakartas Traum von einer "Waterfront City". Glitzernde Türme, Apartments, Boulevards, grüne Parks an einer schillernden Lagune, was man eben alles entwerfen kann in 3-D-Technik. Die Stadt im Wasser soll Platz bieten für eine Million Menschen. Und sie erstrahlt in einem besonderen Design: Ihre Umrisse bilden die Form eines stolzen Adlers.

Die Indonesier verehren den sagenhaften Garuda, ein Vogelwesen aus der hinduistischen Mythologie, dieser Adler ziert das Wappen der Republik. Nun könnte der Garuda auch noch zum Wahrzeichen für das neue Jakarta werden, wie Dedi Supriaty Priatna, Vize-Minister für Infrastruktur, in einem Video erklärt. Wird der mythische Adler die Stadt aus ihrer Not erlösen? Kann sich Jakarta so spektakulär neu erfinden und zugleich schützen? Oder drohen mit dem Megabau nur noch größere Probleme? Angesichts der Komplexität eines solchen Vorhabens, dessen Kosten sich auf 40 Milliarden Dollar belaufen sollen, fällt die Abschätzung aller Folgen nicht leicht. Manche aber sind schon offensichtlich: Kommt die Mauer, wird die Regierung Tausende Fischer umsiedeln müssen.

Vermutlich wird das auch Ismail treffen, einen älteren hageren Mann in weißem Hemd und buntem Wickelrock, der wie viele Indonesier nur einen Namen trägt. Ismail lädt an diesem frühen Nachmittag zum Tee in seine Holzhütte, die auf der Mauer in Pluit sitzt, genau auf der Grenze zwischen Wasser und Land. Viel habe er bislang nicht erfahren über die Pläne, und was aus den Fischern werden soll. Das beunruhigt Ismail, zumal es um seinen Job nicht gut steht. Die Ausbeute wird von Jahr zu Jahr schlechter, immer weiter muss der Vater von fünf Kindern hinausfahren, um etwas zu fangen. Die Bucht von Jakarta ist stark belastet, was daran liegt, dass so viel ungeklärtes Abwasser ins Meer fließt.

Die "Titanic" unter den Metropolen

Immer wieder schwappt dunkle Brühe über ihre Schwelle, wenn der Regen aus den Wolken donnert

Nicht weit von Ismails Hütte hat die Stadt Bagger und Kräne in Stellung gebracht. In Phase A des Masterplans ist vorgesehen, dass entlang der bestehenden Mauer erst mal eine höhere Barriere errichtet wird, das betrachten Ingenieure als kurzfristige Notmaßnahme. Doch auch dieser Schritt verzögert sich. "Alle wissen, dass rasch etwas geschehen muss, aber es ist zäh", sagt ein Insider. Fast die Hälfte Jakartas liegt schon unter dem Meeresspiegel, bis 2030 dürften es 80 Prozent sein. Schon vor Jahren warnten Experten vor der Gefahr, dass eine gewaltige Flut Jakarta in eine Katastrophenzone verwandeln könnte. Der niederländische Ingenieur Jan-Jaap Brinkman hat in einer Studie anhand von astronomischen Zyklen ein konkretes Datum errechnet, vor dem sich Jakarta besonders fürchten muss: Am 6. Dezember 2025 ist das Risiko einer Flut besonders hoch, an diesem Tag, so lautet die Warnung, könnte die Megacity untergehen. Das Magazin National Geographic nannte Jakarta bereits die mutmaßliche Titanic unter den Metropolen der Welt.

"Wenn es soweit kommt, könnten hier schnell bis zu zwei Millionen Menschen sterben", sagt ein Wasserexperte, der den mutmaßlichen Extremfall beschreibt, mit so explosiven Zahlen aber nicht namentlich zitiert werden möchte. Überflutungen gibt es in Jakarta immer wieder, vor allem durch starken Regen, der die Flüsse anschwellen lässt. 2014 machten sie Zehntausende Bewohner in der Stadt vorübergehend obdachlos. Zu ihnen zählte auch Suryani, eine quirlige Mutter, die schon damals von ihrem Leid erzählte. In ihrem kleinen Haus in einem der alten Viertel hat sie an den Wänden den Stand des Wassers markiert, einer der Striche liegt schon höher als ihr Kopf. 2002, 2007, 2013, 2014. Und das sind nur die größeren Fluten gewesen. Immer wieder schwappt dunkle Brühe über ihre Schwelle, wenn der Regen aus den Wolken herunterdonnert oder nun auch immer wieder Wellen des Ozeans bis in die Stadt vordringen.

Zuletzt schwappte das Meerwasser auch in Pluit über die Mauer, die längst nicht mehr ausreicht, um Schutz zu bieten. Wer sich umhört in den Hütten, spürt Unsicherheit und Angst. "Ich würde wegziehen, wenn ich könnte", sagt eine Kioskbesitzerin. "Aber ich weiß nicht wohin." Dabei trifft es nicht allein die Armen, in Pluit gibt es auch Häuser, die Palästen gleichen. Elend und Reichtum liegen dicht an dicht.

"Für Müll und Wasser kaum Regeln"

Mehrere Faktoren verschärfen die Krise, entlang der Wasserwege wuchern Slums, oft sind Flüsse und Kanäle vom Müll verstopft. Wenn nun der Meeresspiegel als Folge des Klimawandels ansteigt und die Stadt gleichzeitig weiter sinkt, werden die Risiken für Millionen kaum noch kalkulierbar sein. Die Uhr für Jakarta tickt.

Zwischen dem geplanten Garuda mit seinen umliegenden künstlichen Inseln und der Küstenlinie könnte bald eine schillernde Lagune entstehen, so sehen es die 3-D-Entwürfe vor, doch das ist nur machbar, wenn Jakarta sein Abwasser reinigt. Denn sonst spülen die Flüsse nur Kloake in das Bassin. "Wasser ist eines unser dringlichsten Probleme", sagt Stadtplanerin Tuty Kusumawati, die in ihrem Büro auflistet, welche neue Kläranlagen Jakarta plant. Derzeit erfassen sie nur vier Prozent des Abwassers. Die Leiterin der regionalen Planungsbehörde kommt kaum noch zur Ruhe. "Die meisten Menschen drängen darauf, dass wir Müll- und Wasserprobleme anpacken", sagt Tuty. "Sie wissen, dass es so nicht weitergeht."

Der Schweizer Landschaftsarchitekt Christophe Girot, der an der ETH Zürich lehrt, ist kein Gegner der Mauer im Meer. Doch glaubt er, dass der Schutz der Stadt nur dann gelingen kann, wenn sich Jakarta darauf besinnt, seine Flusslandschaften wieder in Ordnung zu bringen. Früher gab es so genannte Wadoks, Speicher, die bei Regen Wasser aufnehmen konnten. Sie sind fast alle verschwunden und müssten wieder geschaffen werden. "Außerdem gibt es für Müll und Wasser kaum Regeln", sagt Girot. "Jeder pumpt und jeder schmeißt Dreck weg, wie er will."

Schwerwiegender Eingriff ins Ökosystem

Präsident Jokowi hat bekräftigt, dass die Entwicklung der nördlichen Küste "die Antwort" für Jakarta sei. Doch zugleich mahnte er, die Pläne noch mal zu überarbeiten, die Folgen für die Umwelt müssten besser verstanden werden. Die Mauer verändert Strömungsverläufe, lässt Mangroven verschwinden und ändert die gesamte Meeresökologie in der Bucht, die innerhalb der Barrieren mit Süßwasser aus den Flüssen geflutet würde. Befürworter des Vorhabens argumentieren allerdings, die Verschmutzung der Küste sei bereits so weit fortgeschritten, dass sich der zusätzliche Schaden in Grenzen hielte. Umgekehrt würde die Planung der Mauer der überfälligen Reinigung der Flüsse und des Abwassers einen Schub verleihen.

Dennoch hält sich Skepsis. Dazu erhitzt ein Korruptionsskandal die Debatte, bei der Vergabe von Lizenzen für eine künstliche Insel soll Schmiergeld geflossen sein, der Fall beschäftigt die Gerichte. "Das ist eine sehr heiße Kartoffel", sagt die Stadtplanerin Tuty und schweigt lieber. Mit dem Plan der großen Mauer haben diese Querelen zunächst gar nichts zu tun, doch wirft der Fall ein Licht auf die Fallstricke, die bei so großen Investitionen drohen. Rivalisierende Kompetenzen von Agenturen und Ministerien kommen erschwerend hinzu, im Dickicht der Behörden verlieren sich selbst lebenswichtige Vorhaben wie sicheres Trinkwasser für alle, Probleme stauen sich immer weiter auf.

Für den Schutz Jakartas wird Indonesien ausländische Expertise brauchen, die Niederländer sind führend auf dem Gebiet, sie haben zu Hause gelernt, wie man sicher unterhalb des Meeresspiegels lebt, sie sind Meister des Deichbaus, haben über Jahrhunderte Erfahrungen gesammelt, wie man sich gegen das Meer wappnet und wie man ihm Land abgewinnt. Deshalb sind ihre Kenntnisse gefragt, wenn es darum geht, eine so große Mauer zu bauen.

Selbst für erfahrene Ingenieure ist das eine schwere Aufgabe, die ein Vierteljahrhundert dauern dürfte. Eine gewaltiger Berg an Steinen und mindestens 300 Millionen Kubikmeter Sand sind nötig, das entspricht etwa 7500 einzelnen Schiffsladungen, das Material müsste man vom Boden des Ozeans baggern, etwa in der Meerenge zwischen Sumatra und Java, große Eingriffe in die Umwelt sind das, doch soweit ist es noch nicht. Der Entwicklungsplan sieht mehrere Stufen vor, wieweit Jakarta letztlich kommen wird, ist ungewiss.

Bleibt der glitzernde Garuda womöglich nur ein Luftschloss? Allein die Mauer wird etwa 20 Milliarden Dollar kosten, Geld, das der öffentliche Haushalt Indonesiens kaum hergibt. Aus der Not wollten die Planer eine Tugend machen und haben so die Idee der Waterfront City entworfen. Damit lassen sich private Investoren einbinden, die den Schutz mitfinanzieren und gleichzeitig eine neue Stadt neben der alten Stadt errichten. Manche betrachten das als ehrgeizig, andere als abgehoben und wieder andere als beste Rettung für die sinkende Metropole. "Wie immer man zu den Plänen steht", sagt Tuty Kusumawati. "Es setzt sich das Verständnis durch, dass sich die Stadt dringend schützen muss." Und das besser morgen als übermorgen.

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