Archäologische Funde in Norddeutschland:Gold an der Pipeline

Für Altertumsforscher hat sich der Bau einer riesigen Erdgasleitung durch Norddeutschland als echter Glücksfall erwiesen. Entlang der Trasse sind Tausende Fundstücke aus vergangenen Epochen aufgetaucht, weit mehr als je erwartet. Nun sind die Schätze in einer Ausstellung zu sehen.

Von Thomas Brock

Wenn Ende 2013 bei Greifswald der Hahn aufgedreht wird, fließen täglich bis zu 55 Millionen Kubikmeter Erdgas durch die neue Pipeline, ein Fünftel des deutschen Verbrauchs. Über die Abhängigkeit von russischem Erdgas mag man streiten, für Archäologen jedoch war der Bau der sogenannten NEL-Pipeline wie ein Lottogewinn. Einen "goldenen Schnitt durch Norddeutschlands Bodenarchiv" nennt es Henning Haßmann, Niedersachsens Landesarchäologe. 440 Kilometer lang wand sich der Graben von Lubmin am Greifswalder Bodden bis ins niedersächsische Rehden bei Diepholz, wo das Gas in Kavernen gespeichert und weiterverteilt wird. Vom Bau ist heute nur noch wenig zu sehen. Gelbe Markierungspfeiler lassen ahnen, dass im Boden die Nordeuropäische Erdgasleitung (NEL) liegt.

Bevor das Rohr verlegt werden durfte, mussten Archäologen die Trasse "bereinigen". So wollen es die Landesgesetze: Bodendenkmale sind vor der Zerstörung zu bergen und zu dokumentieren.

In Niedersachsen haben Archäologen und Bauträger aber weit mehr geleistet, als das Gesetz vorgibt: Während üblicherweise nur Verdachtsflächen abgesucht werden, zum Beispiel Gebiete, wo zuvor bereits historische Relikte zum Vorschein kamen, ist hier der Baugrund fast komplett archäologisch sondiert worden. Die Kosten dafür haben die Bauträger übernommen. Unvorhergesehene Funde sollten später die Bauarbeiten nicht verzögern. Immerhin kostet die Gasleitung rund eine Milliarde Euro.

Noch vor den Bauarbeiten wurde der Boden daher großflächig mit Metalldetektoren abgesucht, überflogen und geophysikalisch taxiert. Ein sechs Meter breiter Streifen über den gesamten Verlauf der Trasse wurde zudem genau untersucht. Auf einer Fläche von sieben Quadratkilometern ist gegraben worden, das entspricht etwa 1000 Fußballfeldern. Allein auf den mehr als 200 Trassen-Kilometern in Niedersachsen waren sechs Grabungsfirmen mit mehr als 100 Mitarbeitern beschäftigt, die in Spitzenzeiten 17 Grabungsteams gleichzeitig auf das Gelände schickten.

Während Archäologen sonst meist Flickenteppiche absuchen, ist diesmal ein zusammenhängender Querschnitt durch Norddeutschlands Erdreich entstanden. Das meint Haßmann, wenn er vom "goldenen Schnitt" spricht. Als Schnitt bezeichnen Archäologen üblicherweise eine zusammenhängende Grabungsfläche.

Gold von unschätzbarem Gewinn für die Wissenschaft

Dabei wurde durchaus auch Gold gefunden, sagt der Archäologe. 1,7 Kilogramm, verschmiedet zu 117 Einzelstücken: Ringen, Spiralen und einen Halsring, alles mehr als 3300 Jahre alt. Ein Grabungstechniker war im April 2011 mit einem Metalldetektor auf ein Bündel stark korrodierter Bronzenadeln, ein kleines goldenes Spiralröllchen und eine Gewandspange gestoßen. Der Boden wurde daraufhin als Block geborgen und in die Restaurierungswerkstatt des Landesamtes für Denkmalpflege nach Hannover verbracht. Der Verdacht, in der Erde könnten sich noch mehr Funde befinden, bestätigte sich. Anhand von Computertomografien legte die Restauratorin Spiralen und Armreifen frei.

Der Goldschatz kam in der Gemarkung Gessel beim niedersächsischen Syke zu Tage. Von dieser Woche an steht er im Mittelpunkt der Sonderausstellung "Der goldene Schnitt" im Landesmuseum Hannover. Der Wert des Goldes sei nebensächlich, rechnet Haßmann vor, "der beträgt gerade einmal 55.000 Euro." Damit ließe sich nicht einmal ein Bruchteil der Kosten für die Grabungen, wissenschaftlichen Untersuchungen, Restaurierung und Lagerung bezahlen.

Doch der wissenschaftliche Wert dieses Fundes ist immens: Röntgenfluoreszenzanalytik, Laserablationsmassenspektrometrie und Rasterelektronenmikroskopie, so Robert Lehmann von der Universität Hannover, weisen mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Herkunft aus Zentralasien hin. Zwar ist bekannt, dass in der Bronzezeit über große Distanzen hinweg gehandelt wurde. Dass die Beziehungen von Norddeutschland bis nach Zentralasien reichten, hätte man aber nicht gedacht, so Henning Haßmann.

Auch wenn der Altertumsforscher mit dem Gas aus der NEL wahrscheinlich sein Haus heizen wird - viel mehr interessieren Haßmann die Einblicke in den Alltag der Stein-, Bronze- und Eisenzeit. Neben dem Goldschatz von Gessel gehört die Venus von Bierden zu den herausragenden Funden. Mit fünf Strichen ist sie in ein Steingerät zum Schärfen von Feuersteinen geritzt worden. Der Steinzeit-Künstler deutete Hüftschwung, Schambereich und Bauchnabel an, stellte Gesäß und Beine dar. "Nelly" taufte das Grabungsteam unter der Leitung von Klaus Gehrken den flachen, nur sieben Zentimeter breiten Stein.

Er fand sich zusammen mit Feuersteinmesserchen und Pfeilspitzen bei einer Feuerstelle auf dem Lagerplatz von Jägern und Sammlern auf einer Erhöhung am Rande der Weserniederung. Ursprünglich war angenommen worden, dass der Fund aus der Eiszeit stammt, doch Radiokarbondatierungen ergaben ein etwas jüngeres Alter von 11.000 Jahren. Auch damit ist "Nelly" die älteste Frauendarstellung im norddeutschen Tiefland.

Weit mehr Funde als erwartet

Die übrigen Funde sind auf den ersten Blick weniger spektakulär. Verfärbungen des Bodens etwa sind Hinweise auf Gruben, Gräber oder Pfostenlöcher. Bevor die in diesen Befunden liegenden Funde geborgen werden, müssen sie dokumentiert, also beschrieben, gezeichnet, fotografiert und vermessen werden. Erst dann werden die Fundstücke entnommen. Die vielen Siedlungen und Gehöfte, die aufgrund der Pfosten erkannt wurden, reichen von der Bronzezeit bis ins Mittelalter. Zu den seltenen Entdeckungen zählt eine bronzezeitliche Siedlung mit vier Hausgrundrissen. In Gruben kühlten die Dorfbewohner damals unter anderem Getreide.

In Eydelstedt im Landkreis Diepholz fanden sich außer Gebäudepfosten Vorrats- und Abfallgruben, Feuerstellen und Massen von Keramikscherben, alles aus der Bronze- und Vorrömischen Eisenzeit. Einige Pfosten deuten auf Rutenberge, Erntestapel oder aufgebockte Speichergebäude. In Drentwede, ebenfalls bei Diepholz, wurden in einem in den Boden eingetieften Haus die Gewichte eines Webstuhls gefunden. Auch produzierte man hier Holzkohle. Auf weitreichende Handelsbeziehungen weisen zwei bunte Glasperlen in sogenannter Millefioritechnik aus offenbar römischer Produktion, die in der Wagenfelder Aue zu Tage kamen. Ein ganzes mittelalterliches Dorf mit fünf Wohnstallhäusern, Speichergebäuden, Brunnen und Grubenhäuser kam westlich von Bassum zum Vorschein. Auch auf die Äcker solcher mittelalterlicher Siedlungen, sogenannte Wölbackerfelder, wallartigen Ackerbeete, sind die Archäologen gestoßen.

Mehr als ein Dutzend Friedhöfe, jeweils mit bis zu 100 Bestattungen wurden im Trassenverlauf erfasst. Herausragend ist eine Gruppe von Gräbern der ausgehenden Jungsteinzeit, die südlich von Eydelstedt im Landkreis Diepholz angeschnitten wurde. Die Gräber enthielten vor allem Geräte aus Feuerstein, wie Beile und Messerklingen. Aus der Bronzezeit stammt eine Urne aus Abbenhausen mit Rasiermesser und Pinzette. Allein aus den Jahrhunderten nach Christi Geburt haben die Archäologen mehrere Friedhöfe mit Hunderten von Urnen ausgegraben. Die Toten auf den Brandgräberfeldern bei Syke hatte man verbrannt und ihre Knochen, Kleidungs- und Schmuckreste vergraben. Manche der Gräber waren reich ausgestattet mit Silbermünzen, Spielsteinen und Bronzegefäßen, in denen ursprünglich Wein serviert wurde.

Viele Fundstätten waren zuvor gar nicht bekannt

Die Menge an Funden überrascht selbst Archäologen wie Henning Haßmann. Gerade an solchen Stellen, wo zuvor kein Verdacht bestand, sei man immer wieder auf Relikte aus dem Altertum gestoßen. Mehr als 150 Fundstellen mit tausenden Artefakten sind aufgedeckt worden - nur ein Sechstel der Örtlichkeiten waren zuvor als Fundstätten bekannt. Auf zwei Dritteln der Strecke, so viel ist bislang ausgewertet, sind 127 Bodendenkmale mit Tausenden Befunden aufgedeckt worden - 96 Denkmale davon waren unbekannt. Verblüffend findet Haßmann, dass trotz der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung viele Fundorte überraschend gut erhalten waren. Gräber und Siedlungen lagen nicht selten fast unberührt direkt unter dem von Pflügen durchzogenen Erdboden.

Die Funde werden hundert Meter Regalfläche in Anspruch nehmen, die Grabungsdokumentation etliche weitere und zusätzlich viele Terabytes digitaler Daten, so Haßmann. "Wenn man sich vorstellt, dass wir von den 200 Kilometern der Nord-Süd-Ausdehnung Niedersachsens nur 36 Meter untersucht haben, dann bräuchten wir schon ganze Hochregallager für das, was da noch im Boden schlummert." Am liebsten wäre es Haßmann aber, das alles bliebe im Boden. Denkmale zu schützen ist ihm wichtiger als sie auszugraben.

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