Die Vorstellung wirkt spektakulär: Durch ein komplexes System aus Kanälen und Rückhaltebecken sprudelt gesammeltes Regenwasser aus einem Wadi hinab in einen Schacht, der tief in den Untergrund gegraben wurde. Langsam hebt das Wasser darin ein riesiges Holzfloß in die Höhe. Darauf stapeln sich Kalksteinblöcke. Wie in einem Aufzug fahren sie mitten durch die Pyramide in die Höhe und treten oben wie aus dem Krater eines Vulkans ans Sonnenlicht, bereit, ihren Platz einzunehmen und den Bau weiter in die Höhe zu treiben.
Diese Idee stammt aus keinem Film, sie ist der jüngste Vorschlag zur Beantwortung einer alten Frage: Wie gelang es, die Pyramiden zu errichten? Der Vorschlag mit dem hydraulischen Fahrstuhl stammt von einem französischen Forscherteam und wurde zunächst als sogenannter Preprint vom Wissenschaftsmagazin Plos one veröffentlicht. Das bedeutet, dass die Studie noch nicht von Gutachtern geprüft und als den wissenschaftlichen Standards genügend eingestuft wurde. Doch dazu später mehr.
Untersucht hat das Team nicht die berühmten Pyramiden von Gizeh, sondern die Pyramide des Pharaos Djoser in Sakkara, der um 2700 vor Christus regierte. Die Pyramide liegt rund 15 Kilometer südöstlich von Gizeh und ist etwas älter als die Bauwerke dort. Auch optisch unterscheidet sie sich deutlich vom typischen Bild einer Pyramide: Sie ist nicht glatt, sondern gestuft.
„Ich habe das mit vielen Kollegen diskutiert, und wir waren alle ziemlich fassungslos.“
Christina Köhler ist Professorin für Ägyptologie an der Universität Wien. Sie erklärt, wie es zu der besonderen Form kam: „Ursprünglich war das Grabmal Djosers als eine Art Kasten geplant, eine sogenannte Mastaba. Aber offensichtlich lebte er lange genug, um den Bau noch mehrmals zu erweitern und Elemente oben draufzusetzen. So entstand schließlich eine gestufte Pyramide, die erste Pyramide in Ägypten überhaupt.“ Der Baumeister namens Imhotep wurde später als Gott verehrt.
Das Ziel sei gewesen, den König standesgemäß zu bestatten. Und was standesgemäß war, das änderte sich damals, in der ersten Hälfte des dritten Jahrtausends vor Christus, rasch: „Auch die Privatgräber der Elite wurden in dieser Zeit immer größer. Das waren so eine Art Olympische Spiele des Grabbaus, jeder wollte den anderen übertrumpfen. Und die Könige haben da natürlich mitgehalten und wollten Standards setzen.“ 62,5 Meter ragte die Djoser-Pyramide letztlich in die Höhe. Rund ein Jahrhundert später erreichte die Cheopspyramide mit mehr als 146 Metern noch größere Dimensionen.
Diese gewaltigen Bauleistungen regen seit jeher die Fantasie an. So mutmaßte bereits der römische Schriftsteller Plinius, 360 000 Menschen hätten 20 Jahre lang an der größten von ihnen geschuftet. Köhler sagt: „Das Thema ist sehr spannend, und es weckt viel Interesse, das verstehe ich auch. Aber leider weckt es auch das Interesse von Menschen, die glauben, sie hätten bessere Antworten zu bieten als die Fachwelt.“
So vertritt etwa der Schweizer Sachbuchautor Erich von Däniken prominent die These, Außerirdische seien für den Bau der Pyramiden verantwortlich, und der Brite Graham Hancock glaubt, eine hoch entwickelte, heute vergessene Kultur habe vor langer Zeit ihren Bau ermöglicht.
Auf eine Stufe mit Hancock und Däniken möchte Köhler die Autoren der neuen Studie zwar nicht stellen, doch von den Ergebnissen der Studie hält sie ähnlich wenig wie von deren Theorien: „Diese Idee mit der Hydraulik, da kann ich wirklich nur lachen. Ich habe das auch mit vielen Kollegen diskutiert, und wir waren alle ziemlich fassungslos.“
Für sie ist klar, wie die Pyramiden gebaut wurden: Es sind Überreste von Rampen und riesigen Schlitten gefunden worden. Es gibt Darstellungen, wie auf diesen Schlitten schwere Lasten von Hunderten Menschen gezogen wurden, wahrscheinlich über nasse Bahnen aus glitschigem Lehm. Sogar Texte über den Transport der Steine zur Baustelle sind bekannt. Köhler sagt: „Der Bau der Pyramiden ist beeindruckend, aber längst nicht so unerklärlich, wie manche Menschen glauben.“
Pyramiden:Warum die meisten Pyramiden in einer Reihe stehen
Die Ägypter bauten die meisten Pyramiden in einer Reihe. Jetzt ist klar, warum: Damals floss dort ein mittlerweile verschwundener Seitenarm des Nil.
Außerdem sprechen mehrere praktische Gründe aus ihrer Sicht gegen die Theorie vom wassergetriebenen Aufzug im Inneren der Pyramide. Die Regenfälle hätten niemals ausgereicht, um die Anlage zu betreiben. Auch ist die Djoser-Pyramide aus viel kleineren Steinen gebaut als die Pyramiden von Gizeh: „Viele der Kalksteinblöcke sind nur ein bisschen größer als ein Schuhkarton, ein erwachsener Mensch kann sie ohne jegliche Hilfe tragen.“ Dafür einen solchen Aufwand zu betreiben, hielte sie für absurd.
Hinter den Kanalanlagen, die die Forscher in ihrer Studie als Teil der hydraulischen Konstruktion ausmachten, vermutet Köhler einen Schutz vor Unwettern: „Jeder, der schon mal im Zelt geschlafen hat, weiß ganz genau, dass man einen Kanal drum herum bauen muss, damit das Wasser ablaufen kann. Man wollte vielleicht vermeiden, dass plötzlicher Regen der Anlage Schaden zufügt.“
Auch das Magazin Plos One, bei dem der Fachartikel zur Veröffentlichung eingereicht wurde, hatte wohl Zweifel. Zunächst war der Aufsatz mit Logo des Journals als Preprint erschienen, inklusive der Ankündigung, man wolle im Falle einer regulären Veröffentlichung die kritischen Bemerkungen der wissenschaftlichen Gutachter ebenfalls zugänglich machen. Nun hat man sich offensichtlich anders entschieden und die Studie ohne die Anmerkungen publiziert. Auf Anfrage teilt Plos One mit, die Autoren hätten sich nicht dazu entschlossen, auch die Gutachterkommentare zu veröffentlichen. Die Autoren selbst wollten sich zu Fragen der SZ erst in einigen Wochen äußern, zu groß sei die Zahl der Interviewanfragen für eine zeitnahe Antwort.
Die Gruppe besteht überwiegend aus Ingenieurswissenschaftlern, der Leiter der Studie ist Geschäftsführer von Paleotechnic, einem privaten spendenfinanzierten Forschungsinstitut, das sich laut eigenen Angaben mit der Erforschung antiker Technologien befasst. Das Team wertete Satellitenbilder und Grabungsberichte aus. Der Fokus lag dabei auf dem Höhenprofil des Geländes, seinen Wasserströmen und der Frage, ob die Konstruktion mathematisch durchgerechnet funktionieren könnte. Untersuchungen vor Ort hat die Gruppe aber nicht vorgenommen.
„Ich bin davon überzeugt, dass es multidisziplinäre Teams braucht“, sagt Köhler. Sie selbst arbeite viel mit Naturwissenschaftlern zusammen. Aber genau diese Vielfalt der Perspektiven gebe es bei dieser Studie nicht: „In dem Team ist kein Ägyptologe und kein Archäologe. Damit haben sie sich leider selbst ein Bein gestellt.“