Süddeutsche Zeitung

Künstler der Steinzeit:Archäologen entdecken ältesten Malkasten der Welt

In einer Höhle in Südafrika sind Forscher auf eine 100.000 Jahre alte Werkstatt gestoßen, in der die Steinzeitmenschen mit viel Aufwand Farben herstellten. Lebten dort die ersten Künstler?

Hubert Filser

Man kann sich die Szenerie gut vorstellen, wie die Männer und Frauen über dem Indischen Ozean am Eingang ihrer Höhle unter einem vorspringenden Dach saßen, dem Rauschen des Meeres lauschten, den kühlen Wind spürten und gedankenversunken in einer schillernden, handtellergroßen Schneckenschale ein rötlich glänzendes Pulver mit einem großen Stein mahlten.

Nach getaner Arbeit ließen die Menschen ihre Werkzeuge in der Höhle liegen, der vom Meer herangetragene Sand bedeckte sie und konservierte sie bis heute.

Sollten Christopher Henshilwood und seine Kollegen von der Universität Witwatersrand recht behalten, haben sie das älteste Kunstatelier der Welt entdeckt. Die rötliche Substanz in der Schale war Ocker, ein eisenhaltiges Mineralpulver. Und gemäß den Datierungen der Wissenschaftler sind Pulver und Schale sowie weitere Werkzeuge 100.000 Jahre alt. Die bislang ältesten bekannten Spuren menschlichen Ockergebrauchs sind nur 60.000 Jahre alt.

Insgesamt zwei große Schneckenschalen der Gattung Abalone, auch Seeohren genannt, haben die Archäologen in der Blombos-Höhle rund 300 Kilometer östlich von Kapstadt gefunden. Hinzu kamen Mahlsteine und Hammer, also eine Art Werkzeugkit, Kohlereste und eben Ocker. Das berichten sie in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Science(Bd. 334, S. 219, 2011).

Sicher ist also: Die dort lebenden Menschen haben viel Aufwand betrieben, um die farbige Substanz herzustellen. Sie schabten und kratzten offenbar von harten Ockerbrocken farbige Brösel ab und verrührten sie mit erhitzten, zerstoßenen Knochenstückchen, etwas Kohle und einer Flüssigkeit in der Schale - eine ziemlich aufwendige Prozedur für die Mittlere Steinzeit.

Das Farbpulver sei sogar in der Schale aufbewahrt worden, schreiben die Forscher. Die natürlichen Löcher der Abalone-Schale waren verstopft, so als hätten die Steinzeitmenschen einen Vorratsbehälter herstellen wollen.

"Die Menschen vor 100.000 Jahren hatten ein elementares chemisches Wissen und die Fähigkeit, langfristig zu planen", sagt Henshilwood. Der südafrikanische Forscher hat in der Vergangenheit immer wieder spektakuläre Funde in der Höhle gemacht: ein 77.000 Jahre altes, geglättetes Stück Ocker mit einem regelmäßigen, geometrischen Muster darauf und ebenso alte, rot gefärbte Gehäuse von Süßwassermuscheln, die wohl zu einer Kette verbunden als Schmuckstück dienten. Für den Archäologen sind diese Funde Beweise, dass an diesem Ort einst geistig moderne Menschen am Werk waren.

In diese Chronologie will Christopher Henshilwood seine neuen Funde einordnen. Er glaubt, der moderne Mensch stamme letztlich aus Südafrika und habe und von dort aus erst den Kontinent und dann die ganze Welt besiedelt.

Als Beleg für die Fähigkeiten und das weit entwickelte Bewusstsein der Bewohner der Blombos-Höhle führt er den möglicherweise symbolischen Einsatz des Ockers an. Henshilwood vermutet, dass der frühe Homo sapiens mit dem rötlichen Pulver seine Haut schützte und seinen Körper oder Gegenstände bemalt haben könnte. Damit wären die Wurzeln für ein elementares Kunstverständnis vor mindestens 100.000 Jahren in Südafrika zu suchen.

In jedem Fall waren gefärbte Objekte wie die Muschelketten in der Menschheitsgeschichte wichtig, um soziale Kontakte zu pflegen. Für diese bestehenden Verbindungen haben die Menschen sichtbare Zeichen entwickelt - eine ganz ungewöhnliche, fundamentale geistige Leistung.

Ob es sich um frühe Formen künstlerischen Ausdrucks handelt, ist unter Forschern allerdings umstritten. Der Urgeschichtler Nicholas Conard von der Universität Tübingen etwa stuft den Komplexitätsgrad dieser möglichen frühen Kunstexperimente als gering ein.

So muss die Frage offenbleiben, ob in der Blombos-Höhle tatsächlich vor 100.000 Jahren ein Kunststudio mit Meerblick angesiedelt war oder nur eine einfache Produktionswerkstätte für Farbpigmente. Was schon erstaunlich genug wäre.

Von Hubert Filser ist gerade das Buch erschienen Das erste Mal - eine Suche nach den Spuren des ersten Werkzeugs, der ersten Musik, der ersten Künstler und anderer Premieren in der Geschichte des Menschen.

Ullstein Verlag, Gebunden, 336 Seiten, € 18,00, ISBN-10: 3550088221, ISBN-13: 9783550088223

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Quelle:
SZ vom 14.10.2011/mcs
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