Süddeutsche Zeitung

Archäologie:Metropole im Dschungel

Angkor Wat war mit 900 000 Einwohnern wohl noch größer als gedacht, berichten Forscher. Demnach hatte die Stadt schon im 13. Jahrhundert eine Art Speckgürtel.

Von Hubert Filser

Die erste asiatische Megacity lag mitten im Dschungel. Eine Analyse von Forschern der Universität Oregon legt nahe, dass Angkor, das Zentrum des Khmer-Reichs, im 13. Jahrhundert bis zu 900 000 Menschen beherbergt haben könnte. Heute sind die riesigen antiken Wasserbecken, die unzähligen Tempel und Heiligtümer der Großstadt von dichten Wäldern überwuchert.

Wie die Wissenschaftler im Fachmagazin Science Advances berichten, bezieht die neue Schätzung erstmals die 3000 Quadratkilometer große Gesamtfläche der Metropolregion Angkor ein, einen Mix aus Kernstadt und Speckgürtel sozusagen. Sie basiert sowohl auf archäologischen Erkundungen wie auf neuen, detaillierten Lidar-Messungen aus der Luft, bei dem das Gerät von einem Helikopter aus mithilfe von Lasersignalen die Oberfläche des Urwaldes nach verborgenen Bauten abtastet. So haben die Forscher die steinernen Überreste im Dschungel und die mittelalterlichen Strukturen in den Reisfeldern Kambodschas um das Zentrum von Angkor herum kartiert und dabei zahlreiche unbekannte Strukturen entdeckt. "Die berühmte Anlage Angkor Wat ist nur einer von mehr als tausend Tempeln, die während des Angkor-Reiches in dieser Region gebaut wurden", sagt Co-Autorin Sarah Klassen, die inzwischen an der Universität Leiden forscht.

Ursprüngliche Schätzungen waren von 750 000 Einwohnern ausgegangen. Doch wurde bislang die Größe der Dschungelmetropole unterschätzt, denn außerhalb des Zentrums von Angkor mit den Heiligtümern befanden sich auch zahlreiche Wohnhäuser und Versorgungseinrichtungen. Von diesen Bauten sind keine archäologischen Spuren mehr erhalten, da sie vorwiegend aus organischen Materialien bestanden - und die sind längst zerfallen. Doch eine Information gibt es: Noch heute bauen viele Menschen ihre Häuser ähnlich wie im Mittelalter, erhöht auf Holzpfählen und auf Hügeln. Daneben liegen in Senken oft kleine Reisfelder.

In solchen Strukturen lebten offenbar auch im Mittelalter die Menschen, die den Betrieb der Tempel von Angkor als Handwerker, Priester, Lehrer oder Tänzer unterstützten. Neue Auswertungen deuten darauf hin, dass auch sie kleine Reisfelder in der Stadt betrieben. Genau diese Struktur mit Hügeln, auf denen Wohnbauten stehen, und Senken enthüllen die Lidar-Daten, eine komplexe Stadtlandschaft mit Tempeln und Vierteln mit Häusern und kleinen Teichen. In solchen Häusern lebten im Mittel fünf Menschen, so die Archäologen.

Auf Basis der Lidar-Karten modellierten sie anschließend die Entwicklung des Großraums Angkor, um schließlich auch die maximale Einwohnerzahl abschätzen zu können. Dabei griffen die Forscher erstmals auf ein Maschinenlernverfahren zurück, das Klassen bereits 2018 in einem Artikel in Plos One vorgestellt hatte. Es geht dabei darum, statistische Lernparameter aus der Archäologie, beispielsweise Daten aus historischen Archiven und Karten, zu erfassen und mit Details aus den Lidar-Scans zu kombinieren. Auf Basis von archäologischen Fallstudien fütterten die Forscher die Algorithmen mit Datensätzen und trainierten so das System. Am Ende entstand eine intelligente Datenbank.

Konkret wollten die Forscher etwa klären, wann jeweils ein Tempel gebaut wurde. Das Tempelmodell war die Basis für die Entwicklung des gesamten Stadtgebiets. "Das war entscheidend für unsere Studie", sagt Klassen. "Es erlaubte uns zu sehen, wie sich das Großstadtgebiet im Vergleich zu den kultischen Zentren entwickelte. Wir konnten so auch die mit den Tempeln verbundene Bevölkerung schätzen und sehen, wie sich diese im Lauf der Zeit veränderte." Die Simulation zeigt, wie Angkor im Lauf von wenigen Jahrhunderten zwischen 770 und 1300 zur Metropolregion wurde. Verschiedene Teile der Stadt entwickelten sich auf unterschiedliche Weise. Als die Stadt zu wachsen begann, explodierte vor allem die Bevölkerungszahl im Umland - eine Parallele zu heutigen Großstädten.

Ein Zweck der Studie ist auch, anhand von Angkor etwas über aktuelle Probleme aufgrund von Klimaveränderungen in Ballungsräumen Südostasiens zu lernen. Eine Erkenntnis gibt es schon. Angkor wurde im 15. Jahrhundert anders als gedacht nicht schlagartig verlassen. Die Daten verraten, dass noch im 16. Jahrhundert Veränderungen an den Tempeln vorgenommen wurden.

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