Archäologie in Deutschland:Rituelle Massaker - oder Kannibalismus

Ein 7000 Jahre altes Massengrab in der Pfalz mit vermutlich mehr als tausend Toten gibt Rätsel auf: Waren Europas erste Bauern Kannibalen - oder begingen sie rituelle Massaker?

Hans Holzhaider

Europa ist ein Meer - ein Meer von Bäumen. Von der Atlantikküste im Westen bis zum Schwarzen Meer im Osten, vom Mittelmeer bis zur Nordsee ist der Kontinent von Wäldern bedeckt. Nur in den Hochregionen der Alpen liegen noch immer gewaltige Gletscher, die Überreste der letzten Kaltzeit, die jetzt - um das Jahr 5000 vor Christus - schon an die 7000 Jahre zurückliegt.

Ausgrabungen in Herxheim/Pfalz, Bandkeramik-Kultur

In den Massengräbern bei Herxheim liegen Menschenknochen aller Art dicht beieinander - manche mit rätselhaften Rillen.

(Foto: oh)

Aber an manchen Stellen gibt es Lichtungen in den schier endlosen Wäldern. Im Tal des mächtigen Flusses, den man später Donau nennen wird, von da, wo heute die serbische Hauptstadt Belgrad liegt flussaufwärts, durch die ungarische Tiefebene bis hinauf nach Passau und Regensburg, im böhmischen Becken, im Rheintal vom Breisgau über die Pfalz bis hinunter nach Köln und dann westlich über Brüssel bis ins Pariser Becken, und ostwärts in einem breiten Streifen an den Flussläufen von Elbe, Oder und Weichsel bis hinein in die Ukraine und zur Krim.

Häuser stehen auf diesen Lichtungen. Keine primitiven Hütten, sondern mächtige Wohngebäude, an die acht Meter breit, 20 bis 50 Meter lang, mit einem Gerüst aus Baumstämmen, dessen Zwischenräume mit Fachwerk verfüllt sind. Rinder grasen zwischen den Häusern, sie sehen anders aus als die hier heimischen Auerochsen. Rund um das kleine Dorf haben die Siedler den Wald gerodet und Getreide gepflanzt, Einkorn und Emmer, wenig ertragreiche Arten, es bedarf großer Flächen, um genug für den täglichen Bedarf und den Wintervorrat zu ernten.

Etwa um das Jahr 6000 vor Christus begannen die Vorfahren der Menschen, die heute hier leben, von Osten her nach Europa einzuwandern. Woher genau sie kamen, weiß man nicht - vielleicht aus Kleinasien, vielleicht aus den uralten Kulturlandschaften der Levante. Aber man kann den Weg dieser ersten europäischen Ackerbauern an der Donau entlang verfolgen.

Um das Jahr 5500 erreichten sie das heutige Bayern, 150 Jahre später überschritten sie den Rhein. Sie ließen sich überall dort nieder, wo sie Löss fanden, einen mineralreichen, fruchtbaren und leicht zu bearbeitenden Boden. Niemals siedelten sie in gebirgigen Gegenden. Sie fertigten typische Werkzeuge mit querstehenden Klingen aus Granit oder Feuerstein, sogenannte Dechsel, und sie waren geschickte Töpfer. Ihre Tongefäße verzierten sie mit charakteristischen, bandförmigen Mustern. In der Archäologie nennt man sie deshalb die "Bandkeramiker".

Herxheim in der Pfalz liegt mitten in einem Lössgebiet, wie es die Bandkeramiker liebten. In den Jahren 1996 bis 1999 führten Mitarbeiter der Landesarchäologiedirektion Speyer am westlichen Ortsrand von Herxheim eine Notgrabung durch, weil dort ein Gewerbegebiet entstehen sollte. Sie stießen auf Spuren einer bandkeramischen Siedlung, die etwa acht bis zehn Wohngebäude umfasste, eingerahmt von einem grob trapezförmigen, doppelreihigen Grabensystem. Wenn eine Siedlung von einem doppelten Graben umgeben ist, denkt man sofort an eine Verteidigungsanlage. Aber das konnte es hier nicht sein.

Dies waren keine durchgezogenen Gräben, sondern einzelne, längliche Gruben, die offensichtlich zu verschiedenen Zeiten angelegt worden waren. Manche waren leer, aber in anderen fanden die Archäologen Knochen. Massenhaft menschliche Knochen. Einige wenige vollständige Skelette, aber vor allem einzelne Knochen und Knochenfragmente. Dazwischen lagen Scherben von Tongefäßen, Bruchstücke von Steinwerkzeugen und sogar von massiven Granitblöcken, die den Bandkeramikern als Mahlsteine dienten.

Die Knochen wurden zwar sorgfältig geborgen und katalogisiert, aber zunächst nicht weiter untersucht. Erst bei einer zweiten Grabung in den Jahren 2005 bis 2008 unter der Leitung von Andrea Zeeb-Lanz wurde die außergewöhnliche Dimension dieses Fundes deutlich. Die schiere Menge der Knochen und vor allem rätselhafte Spuren an diesen stellten die Wissenschaftler vor Rätsel.

Rätselhafte Spuren an den Knochen

Ober- und Unterschenkelknochen, Ellen, Speichen, Schulterblätter, Rippen, Wirbel, Schlüsselbeine, Unterkiefer lagen kreuz und quer durcheinander. Viele der größeren Knochen waren zerschlagen, die Rippen sorgfältig von den Rückenwirbeln getrennt worden.

Archäologie in Deutschland: Die schiere Menge der Knochen und vor allem rätselhafte Spuren an diesen stellten die Wissenschaftler vor Rätsel.

Die schiere Menge der Knochen und vor allem rätselhafte Spuren an diesen stellten die Wissenschaftler vor Rätsel.

(Foto: GDKE Rheinland-Pfalz)

Am auffälligsten war die Behandlung der Schädel. Manche von ihnen waren komplett, bei anderen aber war das Schädeldach, die Kalotte, mit einem Schlagwerkzeug abgetrennt worden. An einigen Stellen waren mehrere Kalotten wie in einem Nest zusammengelegt.

Die geborgenen Knochen gehörten zu rund 500 Individuen - Männer und Frauen, vom ungeborenen Säugling bis zum Greis - aber da nur etwa die Hälfte des Grubensystems freigelegt wurde, schätzen die Archäologen die Zahl der Menschen, deren Knochen hier deponiert wurden, auf mehr als tausend - in einer Siedlung, in der sicherlich zu keiner Zeit mehr als hundert Menschen lebten.

Völlig ausgeschlossen ist also, dass in den Gruben um die steinzeitliche Siedlung von Herxheim die Überreste regulär verstorbener Dorfbewohner bestattet wurden, zumal sämtliche Knochen mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb von nur 50 Jahren, zwischen 5000 und 4950 vor Christus, deponiert wurden.

Das schließen die Forscher aus den Tonscherben, die zwischen den Knochen gefunden wurden. Die Töpferarbeiten sind so gut erforscht, dass einzelne Variationen der Verzierungen zeitlich und örtlich genau eingeordnet werden können.

Und die Keramikscherben bargen noch weitere Informationen: Viele der Verzierungen sind charakteristisch für entfernte Siedlungsgebiete der Bandkeramiker, etwa bei Leipzig oder in Böhmen. Entweder waren die Gefäße von dort nach Herxheim gelangt, oder die Künstler, die sie anfertigten.

Es war keine Ware für den alltäglichen Gebrauch. "Hochpoliert, feinstornamentiert", sagt Andrea Zeeb-Lanz, "das Wertvollste, was man opfern kann, und eigens für diesen Anlass hergestellt." Die Bruchstücke weisen keinerlei Gebrauchsspuren auf, und die Bruchkanten sind noch scharf, sie wurden also unmittelbar nach dem Zerschlagen zugeschüttet.

Opfer von Kannibalen?

Ausgrabungen in Herxheim/Pfalz, Bandkeramik-Kultur

"Bandkeramiker" nennen Archäologen jene Menschen, die vor rund 8000 Jahren aus Vorderasien nach Europa kamen. Sie stellten fortschrittliche und üppig verzierte Tongefäße her und bevorzugten lösshaltigen Boden entlang der großen Flüsse.

(Foto: GDKE Rheinland-Pfalz)

Nun betritt Bruno Boulestin die Szene, ein Anthropologe der Universität Bordeaux und weltweit einer der fachkundigsten Kannibalismusforscher. Er hatte von den Herxheimer Knochenfunden gehört, von denen viele stark versintert waren, also mit Kalk überwuchert. Boulestin ließ sie mit Essigsäure reinigen, und nun erkannte das geschulte Auge des Anthropologen eine Vielzahl von Schnittspuren.

Einzelne, kürzere oder längere Schnitte, zum Beispiel an der Schädeloberfläche oder an den Gelenkenden. Sie deuten darauf hin, dass Haut abgezogen wurde oder Sehnen durchtrennt wurden, um Gliedmaßen abzutrennen oder zum Beispiel Rippen von den Wirbelkörpern zu lösen. Mehrere kurze, nahe beieinanderliegende Schnitte quer zum Knochenschaft lassen darauf schließen, dass die Körperteile systematisch entfleischt wurden - es sind Spuren, wie man sie am Gebein geschlachteter Tiere findet.

An manchen Knochen gab es Brandspuren, und die Zerschlagung der Langknochen könnte darauf hindeuten, dass es den Tätern um das Knochenmark ging. Für Boulestin war der Fall klar: Die Bandkeramiker von Herxheim hatten über Jahre hinweg Menschen geschlachtet, um sie ganz oder teilweise zu verspeisen.

Andrea Zeeb-Lanz sieht das skeptisch. "Es gibt bestimmt gute Argumente für Kannibalismus", sagt sie, aber einen wirklichen Beweis gebe es nicht. Ein Beweis - das wären zum Beispiel Fäkalien, in denen menschliches Myoglobin (ein Enzym im Muskelfleisch) enthalten ist. Aber Fäkalien der Bandkeramiker sind kaum erhalten.

Auch die Menge der Knochen lässt an der Vorstellung kannibalistischer Gelage zweifeln - Menschenfleisch müsste über Jahre hinweg eines der Hauptnahrungsmittel der frühen Herxheimer gewesen sein. Und vor allem bleibt, Kannibalismus hin oder her, die Hauptfrage unbeantwortet: Warum? Was kann die steinzeitlichen Ackerbauern innerhalb eines kurzen Zeitraums zu exzessiven Tötungsorgien veranlasst haben?

Immerhin gibt es inzwischen Erkenntnisse darüber, wer die Opfer waren. "Wir dachten immer, das sind alles Bandkeramiker", sagt Andrea Zeeb-Lanz. Durch eine chemische Analyse des Zahnschmelzes im ersten und dritten Backenzahn lässt sich feststellen, wo ein Individuum aufgewachsen ist. Je nach der geologischen Zusammensetzung des Bodens ändert sich das Verhältnis von Strontium-87 und Strontium-86 Isotopen im Zahnschmelz.

Das Ergebnis einer Untersuchung von 54 Individuen aus den Knochengruben verblüffte die Archäologin: Die Mehrzahl dieser Menschen kam aus granitreichem Bergland, wo es nie bandkeramische Siedlungen gab. Das widerlegt die These der Zweitbestattungen, wonach Bandkeramiker aus entfernten Siedlungen ihre Toten ausgruben und in Herxheim ein zweites Mal beerdigten.

Als die Ackerbauern aus dem Nahen Osten nach Mitteleuropa kamen, trafen sie nicht auf menschenleeres Land. Dort lebten die Mesolithiker, Nachfahren der höhlenbewohnenden Jäger und Sammler, die schon 40.000 Jahre zuvor eingewandert waren.

Sie lebten noch halbnomadisch und ernährten sich von der Jagd, vom Fischfang und von wilden Früchten. Sicherlich gab es Begegnungen zwischen den Bandkeramikern und den Mesolithikern. Aber das Land war so dünn besiedelt und die Lebensweise der beiden Bevölkerungsgruppen so unterschiedlich, dass es wohl kaum Anlass zu kriegerischen Auseinandersetzungen gab.

Es gibt nur wenige bandkeramische Fundstätten mit Überresten von Menschen, die offensichtlich gewaltsam ums Leben kamen. In Talheim bei Heilbronn fand man 38 erhaltene Skelette mit Hiebverletzungen am Kopf, aber dort hatten sich Bandkeramiker gegenseitig die Schädel eingeschlagen - möglicherweise ging es um Frauenraub, denn unter den Skeletten war keines einer jungen Frau. In Asparn (Niederösterreich) fand man im Befestigungsgraben einer bandkeramischen Siedlung Überreste von mehr als hundert Menschen mit schweren Schädelverletzungen - auch das war aber wohl ein kriegerischer Überfall.

Die Schädel der Toten von Herxheim dagegen waren alle intakt, wenn man davon absieht, dass einigen post mortem die Hirnschale abgetrennt wurde. Wie sie zu Tode kamen, bleibt rätselhaft - mit modernen gerichtsmedizinischen Methoden sind viele Todesursachen nicht feststellbar, wenn die Weichteile fehlen.

"Ein abrupter Kulturwandel"

Was also ist geschehen in Herxheim in jenen 50 Jahren, in denen die Gruben mit den Knochen von mehr als tausend Menschen gefüllt wurden? Dieses halbe Jahrhundert von 5000 bis 4950 vor Christus markiert - eine merkwürdige zeitliche Koinzidenz - das Ende der bandkeramischen Kultur in Mitteleuropa. Die Bevölkerungsdichte nahm ab, Dörfer wurden verlassen. Herxheim ist die letzte bandkeramische Siedlung im weiteren Umkreis, wo es zuvor nachweislich mehrere solcher Ansiedlungen gab.

Nach 4950 v. Chr. ändern sich die Formen und die Muster der Töpferwaren. Die Toten werden anders bestattet - nicht mehr mit angezogenen Knien, sondern lang ausgestreckt; die Gebäude verändern sich, es werden neue Getreidesorten angebaut. "Das ist ein abrupter und flächendeckender Kulturwandel", sagt Andrea Zeeb-Lanz. Niemand weiß bisher, was ihn herbeigeführt hat. Untersuchungen über eine Klimaveränderung haben bisher zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt.

Auch gibt es keine Anzeichen für eine Hungersnot oder auch nur Mangelernährung, und ebenso wenig für die Zuwanderung neuer Bevölkerungsgruppen, die die Ackerbauern in Bedrängnis gebracht haben könnten.

Aber irgendetwas hat sich verändert, möglicherweise auch nur in den Köpfen der Menschen. "Vielleicht entwickelte sich eine neue religiöse Bewegung, die sich in neuen, außergewöhnlichen Ritualen manifestierte", mutmaßt Andrea Zeeb-Lanz. Eine solche Gewalt-Orgie, bei der alles, auch Menschen, gewaltsam zerstückelt wurde, hat in der Bandkeramik keine Tradition.

Vielleicht kamen diese Menschen von weit her nach Herxheim, vielleicht brachten sie Gefangene oder Sklaven mit, und ihre wertvollsten Töpferwaren und Werkzeuge, vielleicht feierten sie ein monumentales Opferritual für Götter, von denen wir nichts wissen. Die ersten Ackerbauern Europas hatten keine Schrift, und sie hinterließen keine künstlerischen Zeugnisse, die Aufschluss über ihre religiösen Vorstellungen geben könnten. Nur die Knochen sprechen zu uns.

Am 16. Juli zeigt Arte um 20 Uhr 15 den Film von National Gegraphic TV "Herxheim - Kannibalen im Herzen Europas". Ausschnitte und Fotos findet man hier:

In der US-Fassung ist der Film hier zu sehen.

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