Es gibt diese oft zitierte, Heraklit zugeschriebene Wendung, wonach man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne. Ein wenig kommt einem dieser Gedanke in den Sinn, beim Betreten der Ausstellung "Sunken Cities: Egypt's lost worlds" im British Museum in London. Die mächtige, 5,40 Meter hohe und fünf Tonnen schwere Granit-Statue des Gottes Hapi war auch schon, edel beleuchtet, einige Jahre zuvor in Berlin in der Ausstellung "Ägyptens versunkene Schätze" zu sehen. Auch die aus schwarz-glänzendem Granit gefertigte, etwa 2400 Jahre alte Stele mit den Besteuerungsvorschriften aus dem Hafen von Thonis-Heraklion hatten die Ausstellungsmacher damals effektvoll in Szene gesetzt. Viele der grandiosen Objekte, die der französische Unterwasserarchäologe Franck Goddio über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg aus den Untiefen des Golfes von Abukir im Mündungsdelta des Nil geborgen hatte, waren seinerzeit im Martin-Gropius-Bau zu sehen gewesen.
Und doch ist der Eindruck in London ganz neu. Eine Ausstellung ist erwachsen geworden. Wer einst im Berliner Martin-Gropius-Bau war, reibt sich leicht verwundert die Augen. Damals war es eine pompöse Inszenierung spektakulärer Funde, meterhoher Statuen und mystischer Stelen. In London nun spürt man auch die Feinheiten. Das Wissen, das Forscher über Jahre erarbeitet haben, entfaltet seine Wirkung. Die versunkenen Städte sind plötzlich viel lebendiger.
Versunken war die Region um die Städte Kanopus, Naukratis und Thonis-Herakleion wohl nach einem Erdbeben im Mittelalter, als der weiche Untergrund des Nildeltas erschüttert wurde und sich ein kilometerlanger Küstenstreifen 30 Kilometer nordöstlich der ägyptischen Hafenstadt Alexandria um bis zu zehn Meter absenkte und in den Fluten versank. Bis Frank Goddio sie vor gut 20 Jahren wiederentdeckte.
Ein kilometerlanger Streifen an der Küste senkte sich bis zu zehn Meter ab und versank
Die bombastische Inszenierung der Unterwasser-Archäologie-Erlebniswelt des Franck Goddio, dessen Taucher in Berlin noch in zahlreichen Filmen beim Bergen der Stücke eindrucksvoll in Szene gesetzt worden waren, ist im British Museum etwas in den Hintergrund gerückt. Dadurch beginnen die Geschichten hinter den Objekten zu wirken. Nur zu Beginn gibt es einen Film, in dem Taucher in den trüben Gewässern mit starken Lampen bestückt die Artefakte am Meeresgrund aufspüren. Diese Scheinwerfer-Welt braucht es danach nicht mehr. Stattdessen rücken die mit den Objekten verbundenen Themen in den Vordergrund. Und hier hat die Ausstellung bemerkenswerte Dinge zu berichten. Sie erzählt vom intensiver werdenden Austausch zweier Kulturen, der griechischen und ägyptischen. Es gibt zahlreiche archäologische Spuren, die zweisprachige Inschrift auf einer goldenen Gründungs-Plakette eines religiösen Schreins etwa, auf der derselbe Text einmal auf Griechisch und dann in Hieroglyphen steht. Zu sehen sind auch große Amphoren, in denen Wein von der Westküste der heutigen Türkei nach Ägypten gebracht wurde, und kleine Alabaster-Gefäße, in denen ägyptisches Parfüm nach Griechenland oder sogar ins etruskische Italien gelangte.
Doch nicht nur Alltagswaren werden getauscht, auch in der religiösen Welt gab es wechselseitige Einflüsse. Auch das arbeitet die Ausstellung heraus. "Praktisch alle Namen der Götter kamen aus Ägypten nach Griechenland", schrieb Herodot. Dionysos, der griechische Gott des Weines, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase gleicht in vielen Eigenschaften und Funktionen dem ägyptischen Gott Osiris. Die politischen Verhältnisse hatten ebenfalls starken Einfluss. Im vierten Jahrhundert vor Christus übernahmen die Griechen in Ägypten die Macht. Alexander der Große hatte das Land zuvor erobert, nach seinem Tod herrschten die Ptolemäer am Nil. Ein ehemaliger General Alexanders, der sich Ptolemaios I. nannte, begründete eine Dynastie, die erst mit dem Selbstmord der berühmten Kleopatra knapp 300 Jahre später endete. Alexandria wurde als erste Megacity der Antike zum Mittelpunkt der Welt, mit der größten Bibliothek der alten Welt, der mächtige Leuchtturm an der Hafeneinfahrt war eines der sieben Weltwunder. Kanopus und Heraklion hatten als religiöse Zentren enge Verbindungen zur Herrscherstadt.
Auch solche Hinweise geben die Ausstellungsmacher. Das liegt natürlich auch an neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die unter anderem das Team um Damian Robinson erarbeitete, dem Direktor des Oxford Centre for Maritime Archaeology. So lieferten geophysikalische Untersuchungen der Region die wissenschaftlichen Details, aus denen ein detaillierter Stadtplan von Naukratis entstand und mit deren Hilfe man den Tempeln, Stelen und Statuen einen Platz in einem Stadtgefüge zuweisen konnte, und damit einen Sinn und eine konkrete Bedeutung.
Dies ist vor allem auch im faszinierendsten Teil der Ausstellung spürbar, der sich mit Religion beschäftigt. Er gibt tiefere Einblicke in eine mythische Welt zwischen Sterben und Wiedergeburt, vor allem in die wenig bekannten Rituale rund um den Osiris-Kult. Osiris ist der Gott der Wiedergeburt und des Jenseits, gleichzeitig auch eng mit dem Nil verbunden. Um die Zeremonienabfolge machten die Osiris-Priester einst ein großes Geheimnis. Außer ein paar Hinweisen auf Fresken und Stelen war bislang fast nichts darüber bekannt. Goddios Funde brachten Licht ins Dunkel. Er entdeckte ein ganzes Sammelsurium an Kultgegenständen, bronzene Schüsseln, Schöpfkellen, Glocken, Öllampen oder Räucherpfannen für Weihrauch genauso wie das große, elf Meter lange Prozessionsboot mit der Osiris-Statue.
Die Besucher halten respektvoll Abstand zu einem Boot, das bei einer Zeremonie versenkt wurde
Wenn bei der Prozession zu Ehren des Jenseitsgottes eine große, flache Barke vom Amun-Gereb-Tempel in Thonis-Herakleion über einen kilometerlangen Kanal in Richtung Kanopus zum dortigen Osiris-Heiligtum aufbrach, war das der Höhepunkt einer mehrtägigen Zeremonie, die offenbar im Monat Khoiak stattfand, also im Herbst. Entlang der Prozessionsstrecke fanden die Taucher Ritualgefäße, kleine Osiris-Statuetten mit goldenen Augen, bronzene Miniatur-Barken und Reste von Tieropfern. Das aus dem besonderen Holz der Sykomore, einer Maulbeerbaumart, gefertigte Boot war offenbar einst nach einer solchen Zeremonie absichtlich versenkt worden - und überlebte geschützt im Wasser. Möglicherweise war das Versenken eine rituelle Handlung, Osiris tauchte so symbolisch in die Fluten des Nil und damit in die Unterwelt. Auf dem Boden des Ausstellungsraums im British Museum sind die Umrisse der Barke in Originalgröße aufgedruckt, mit all den strukturellen Details des Holzes und der hölzernen Aufbauten. Offenbar wirkt die weihevolle Inszenierung, denn kaum jemand betritt das Boot, die meisten Besucher halten Abstand.
Diese Ausstellung gehört also mehr den vielen schönen kleinen Dingen, so grandios die Statuen auch sein mögen. Was natürlich nicht bedeutet, dass man die imposanten Einzelstücke nicht genauso bewundert: etwa den monströsen, steinernen Horus-Stier oder die mattschwarze Statue der Königin Arsinoe II, die nur ein leichtes Gewand über ihrem makellosen Körper trägt. So zart ist selten ein Kleidungsstück in Stein gemeißelt worden.
Sunken Cities ist bis zum 27. November im British Museum zu sehen, danach ab Februar 2017 in Zürich .