Archäologie:Frau mit Blau

Bisher ging man davon aus, dass im Mittelalter vor allem Mönche Bücher produzierten. Die Überreste einer Nonne legen nun eine andere Vermutung nahe. Im Zahnstein finden sich Spuren, die auf eine rege Tätigkeit als Illustratorin hinweisen.

Von Tobias Kühn

Für Kassenpatienten ist das Erfreulichste am Zahnstein, dass er einmal im Jahr kostenlos entfernt wird. Manchmal erzählen die Ablagerungen aber auch eine Menge über die europäische Geistesgeschichte. Sehen kann man das am Beispiel einer Nonne aus dem Mittelalter, die um 1100 im westfälischen Kloster Dalheim lebte. Bei der Untersuchung ihrer Überreste stieß ein Team von Forschern um Christina Warinner vom Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte auf bläuliche Rückstände im Zahnstein. Sie deuten darauf hin, dass die Nonne an der Produktion von Büchern beteiligt war.

Im Mittelalter leckten Illustratoren ihre Pinsel regelmäßig an, um detailreicher malen zu können. Auf diese Weise sei der Farbstoff Ultramarin höchstwahrscheinlich in den Mund der Nonne gelangt, schreiben die Forscher. Zwar sind einige wenige Beispiele von Schreiberinnen und Buchmalerinnen im 12. Jahrhundert überliefert. Bislang ging man aber davon aus, dass im Mittelalter hauptsächliche Mönche Bücher verfassten. Eine genaue Zuordnung ist generell schwierig, weil die Urheber ihre Werke zu dieser Zeit aus religiöser Ehrfurcht nicht namentlich unterzeichneten. Der Fund im Zahnstein der Dalheimer Nonne passt trotzdem in eine Reihe von neuen Studien, welche die männliche Dominanz im mittelalterlichen Literaturbetrieb infrage stellen. Es ist zudem der erste direkte Beleg, dass auch Frauen luxuriöse Farben und Pigmente wie Ultramarinblau verwendeten.

Im Fachmagazin Science Advances diskutieren die Forscher noch andere Hypothesen, die sie aber allesamt für wenig wahrscheinlich halten. Demnach hätte die Nonne die bläuliche Farbe theoretisch auch auf anderen Wegen aufnehmen können. Im Mittelalter sei es beispielsweise nicht unüblich gewesen, dass Frauen beim Lesen von Gebetsbüchern die Illustrationen küssten, so die Wissenschaftler. Allerdings ist die Praxis des Bilderküssens erst dreihundert Jahre nach dem Tod der Dalheimer Nonne belegt.

Fest steht, dass das Ultramarin-Pigment aus Lapislazuli hergestellt wurde. Ein Gestein, das im Mittelalter ausschließlich im heutigen Afghanistan abgebaut und dementsprechend teuer gehandelt wurde. Nur sehr geübte Schreiber durften damit hantieren. Zu ihnen zählte vermutlich auch die Nonne aus der Nähe von Paderborn. An ihrem Skelett finden sich auch keine Spuren, die auf die damals übliche, anstrengende Feldarbeit hindeuten würden

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