Archäologie:Die Wanderinnen mit den Turmschädeln

Skulls

Die Verformung des Kopfes hatte einst in Europa Tradition: Links ist ein stark, in der Mittel ein leicht verformter Schädel zu sehen. Die Knochen des rechten Kopfes wurden nicht deformiert.

(Foto: State collection for Anthropology and Paleoanatomy Munich, Germany)
  • In einigen bayerischen Siedlungen waren Überreste von Frauen gefunden worden, die seltsam deformierte Köpfe aufwiesen. Sie stammten aus einer Zeit um 500 nach Christus.
  • Forscher konnten nun zeigen, dass die Frauen aus dem Schwarzmeerraum stammten.
  • Sie waren Teil einer großen weiblichen Migrationsbewegung dieser Zeit.

Von Hubert Filser

Die Schädel sahen seltsam aus, die Stirn ragte senkrecht, fast turmartig nach oben. Immer wieder tauchten diese verformten Artefakte in den vergangenen Jahren in Gräbern bayerischer Siedlungen wie Altenerding, Alteglofsheim oder Straubing auf. Ein Rätsel blieb bis jetzt, wer diese Menschen waren. Brachten Hunnen die Tradition der deformierten Schädel nach Europa? Ähnliche Verformungen waren bei dem zentralasiatischen Reitervolk gefunden worden.

In den vergangenen Jahren haben Paläontologen die gesamten Bestände der Staatssammlung für Anthropologie in München durchforstet, um die Herkunft der Schädel genetisch zu klären. Nun zeigt sich: Es handelt sich bei den Toten ausnahmslos um Frauen. Und diese sind etwa um 500 nach Christus, in der Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter, aus Südosteuropa eingewandert und nicht aus Zentralasien. Das schreibt ein Forscherteam in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins PNAS.

"Die genomische Herkunftsanalyse verweist darauf, dass die Frauen mit deformiertem Schädel genetisch heutigen Bulgaren und Rumänen am ähnlichsten sind", sagt der Mainzer Populationsgenetiker und Anthropologe Joachim Burger. "Ein direkter genetischer Einfluss von zentralasiatischen Hunnen kann nur marginal gewesen sein." Lediglich eine Frau aus Altenerding hat wohl asiatische Wurzeln. Der große Zustrom kam aus Südosteuropa und nicht aus Asien. Regelmäßig müssen Frauen von dort ins frühe Bayern gezogen sein.

Etwa jede zwanzigste Frau aus den 1500 Jahre alten Gräbern hatte einen solchen turmförmigen Schädel. Kinder oder Jugendliche waren keine dabei. Die deformierten Köpfe entstanden, indem der noch formbare Schädel in der frühen Kindheit mit Bandagen umwickelt wurde. Eine Praxis, die man auch von amerikanischen Ureinwohnern oder den Mangbetu aus dem Kongo kennt. Oft sollte die Zugehörigkeit zu einer Elite oder eine Charaktereigenschaft wie Stärke betont werden, erklärt die an der Studie beteiligte Anthropologin Michaela Harbeck von der Staatssammlung für Anthropologie in München. "Es könnte aber auch ähnlich wie heutige Piercings einfach dem Schönheitsideal entsprochen haben."

Die Frauen mit den seltsamen Schädeln waren in der bajuwarischen Bevölkerung anerkannt, wie die Grabbeilagen belegen. "Die meisten der fremden Frauen sind kulturell dem Rest der Bevölkerung sehr ähnlich und wirken assimiliert", sagt Brigitte Haas-Gebhard von der archäologischen Staatssammlung München. Die Tradition der turmförmigen Schädel hielt sich im frühmittelalterlichen Bayern jedoch nur ein halbes Jahrhundert lang.

Forscher der Universität Mainz um Joachim Burger untersuchten zudem das Erbgut von insgesamt 41 Skeletten aus Süddeutschland, von elf konnten sie sogar das komplette Genom bestimmen. Etwa die Hälfte hatten den merkwürdig verformten Schädel. So lasse sich "endlich einmal eine richtige Population typisieren", wie Burger sagt. "In vorgeschichtlichen Studien klaffen ansonsten immer Jahrhunderte zwischen Individuen."

Die populationsgenetische Studie ist deshalb so spannend, weil sie generell eine Reise zurück zu den Wurzeln der Bajuwaren macht, in eine Zeit um 500 n. Chr., als das weströmische Reich endgültig zerfiel und auf seinem Boden viele neue Siedlungen entstanden, die zu den Dörfern und Städten heranwuchsen, die wir heute kennen. Offenbar tut sich in dieser "Zeit des Formierens", wie es Michaela Harbeck nennt, einiges in Europa. Es ist ein gewaltiger Umbruch, der bis heute nachwirkt und die Bayern zu einem faszinierenden Multi-Kulti-Volk werden ließ.

Zu jener Zeit formierte sich direkt südlich der alten römischen Grenzen auch der Volksstamm, den Mitte des sechsten Jahrhunderts der Geschichtsschreiber Jordanes und der Dichter Venantius Fortunatus erstmals erwähnen. Die "Baiuvarii" siedelten vorwiegend in der ehemaligen Grenzprovinz des römischen Reiches südlich der Donau, also im heutigen Ober- und Niederbayern. Schon damals vertrugen die meisten Bajuwaren Milch, wie die genetischen Daten ergaben. "Mehr als erstaunlich ist der Umstand, dass etwa 80 Prozent der alten Bayern blond und blauäugig waren", sagt Burger. "Derartige Frequenzen findet man heute allenfalls in Skandinavien. Eine voralpine Population von 500 nach Christus hätte ich mir anders vorgestellt."

Die Forscher hatten eher einen eher mediterranen Einschlag erwartet. Schließlich war die Region jahrhundertelang unter römischer Herrschaft. Ob die blonden Bayern nach dem Abzug der Römer aus dem Norden eingewandert sind oder ob die einheimische Bevölkerung einen älteren, möglicherweise keltischen Ursprung hat, sollen nun weitere genetische Untersuchungen an älteren Gräbern klären.

Klar ist, dass es am Ende des fünften Jahrhunderts eine stete Zuwanderung aus dem Schwarzmeerraum gab, womöglich entlang der Donau. Und dass vorwiegend Frauen migrierten, ein Phänomen, das auch in der Bronzezeit auftrat, als Frauen aus dem heutigen Sachsen in den Augsburger Raum zogen. Die Migration nach Bayern endete auch nicht mit den Turmschädel-Frauen. Die Forscher konnten in den Gräbern Frauen ohne deformierte Schädel finden, die im 6. Jahrhundert wohl aus der Region des heutigen Griechenland oder der Türkei einwanderten. "Ein einmaliges Beispiel weiblicher Mobilität, die größere Kulturräume überbrückt", sagt Burger.

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