Da stand also Herodot um das Jahr 450 vor Christus tatsächlich in der Werft von Thonis-Herakleion und schaute den Arbeitern zu, wie sie aus knorrigem Holz grobe dicke Holzziegel hauten und sägten. Auf dem Boden lag bereits das Gerippe des Schiffs, ein aus kurzen Balken zusammengesetzter Kiel mit Querstreben. Nur an Bug und Heck war er nach oben hin abgestützt. Was Herodot hier sah, war das Rückgrat eines eher plumpen Schiffstyps. Doch offenbar beeindruckte den griechischen Historiker die Form des Bootes, er erwähnte die "Baris" in seinen Aufzeichnungen. Es handelte sich um den wichtigsten Lastkahn im ägyptischen Pharaonenreich, schon im Alten Reich hatte es diesen ungewöhnlichen Bootstypus gegeben. Lange Zeit war Forschern nicht klar, ob Herodots detaillierten historischen Schilderungen zu trauen ist. Nun haben Archäologen der Universität Oxford einen archäologischen Beleg gefunden, der bis in Details den Beschreibungen entspricht - das einst im alten Hafenbecken versunkene Schiff 17.
"Erst als wir das Wrack sahen, erkannten wir, dass Herodot recht hatte", sagt Damian Robinson, Direktor am Zentrum für maritime Archäologie der Universität Oxford. "Ungewöhnlich an dem Schiff war, dass es eine Konstruktionsform hatte, die sich von allem unterscheidet, was damals im Schiffbau im gesamten Mittelmeerraum zu sehen war." Normalerweise wurden die Bretter von Schiffsrümpfen mit Steck- und Zapfenverbindungen oder Nägeln verbunden, und zwar immer nur jeweils benachbarte Bretter miteinander. "Lange Querrippen bei Schiff 17 ermöglichten es, mehrere Reihen von Brettern miteinander zu verbinden", so Robinson. "Diese Form des Schiffsbaus ist einzigartig."
Verblüffenderweise beschrieb Herodot im Buch zwei seiner "Historien" genau diese Technik. 23 Zeilen aus Vers 96 beschäftigen sich nur mit dem Bau und Einsatz der Baris. Herodot erzählt, wie Handwerker "Bretter von zwei Ellen Länge" aus Dornbuschholz - einer Akazienart - hauen, diese dann "wie Ziegel" aneinanderlegen. Er berichtet, wie Planken seitlich auf Querrippen gesetzt werden und so der Schiffsrumpf langsam entsteht, wie Fugen abgedichtet werden und dass ein Steuerruder, "das durch den Schiffsboden hindurchgeführt wird", ebenso Teil des Schiffes sei wie ein Mast mit Segeln aus Papyrus.
700 Steinanker haben die Archäologen im Hafenbecken gefunden
Schiff 17 ist eines von mehr als 70 Schiffen, die Unterwasserarchäologen um Franck Goddio vom Europäischen Institut für Unterwasserachäologie (IEASM) in den vergangenen zehn Jahren im Hafenbecken der versunkenen Stadt Thonis-Herakleion 6,5 Kilometer vor der heutigen Küste Ägyptens entdeckten. "Viele weitere Schiffe zeichnen sich im Unterbodenprofil unter einer bis zu zehn Meter dicken Schlammschicht ab", sagt Goddio. 700 Steinanker habe man im gesamten Hafenbecken gefunden. 15 Meter unter der Wasseroberfläche findet sich unter meterdickem Nilschlamm der größte antike Schiffsfriedhof der Welt. Neben großen Handelsschiffen liegen Ausflugsschiffe oder kleine Barken im Hafenbecken. Thonis-Herakleion war bis zur Gründung von Alexandria im vierten Jahrhundert vor Christus fast fünf Jahrhunderte lang der wichtigste Handelshafen des Pharaonenreichs, das Tor zur Welt. Hier wurden Waren aus dem gesamten Mittelmeerraum umgeladen. Dies erklärt auch die Häufigkeit von Frachtschiffen unter den Wracks.
Gebaut wurden die Baris direkt im Hafen und im Mündungsdelta des Nils. Eine dieser Werften könnte Herodot besucht haben, meint IEASM-Forscher Alexander Belov. Der russische Archäologe analysierte das besonders gut erhaltene Schiff 17 und hat dazu nun ein Fachbuch publiziert. 70 Prozent des 28 Meter langen und acht Meter breiten Boots waren erhalten geblieben, zudem gab es mit Schiff 43 ein baugleiches, etwa kleineres Schiff. Der insgesamt gut 24 Meter lange Kiel war aus zwölf, im Schnitt etwa zwei Meter langen, miteinander verbundenen Balken gebaut, durch deren Mitte jeweils quer die Streben führten. Dort wurden dann die Bohlen für den Boden aufgefädelt.
Für Alltagsschiffe musste einfaches Bauholz aus der Gegend reichen
Alle Bretter waren eher grob gefertigt, nicht etwa, weil die Bootsbauer das nicht besser konnten, so Belov. "Es gab auch elegante Schiffe aus Zedernholz für die Pharaonen, aber die Baris waren die Lastesel des Nils." Bei Alltagsschiffen mussten die Handwerker mit lokalem, einfachem Bauholz auskommen, Nil-Akazie, Maulbeerbaum oder Tamarisk standen zur Verfügung. "Zeder oder Kiefer waren zu teuer", sagt Belov. "Wertvolle Hölzer verwendete man nur für königliche Schiffe."
Die Auswertung der technischen Details und aufwendige 3-D-Analysen des kompletten Boots ergaben, dass es unbeladen nur einen Tiefgang von 0,6 Metern hatte. "Selbst mit seiner Maximallast von 112 Tonnen erreichte es nur 1,6 Meter Tiefgang", sagt Belov. Damit konnte es die meiste Zeit des Jahres die Arme des Nildeltas befahren. Die Forscher bekamen durch die Neuinterpretation des Herodot-Textes insbesondere von Vers 96 auch ein besseres Verständnis, wie Kapitäne die Schiffe einst auf dem Nil navigierten. Stromaufwärts konnten die Baris-Schiffe nur bei starkem Wind mit etwa sechs bis zehn Kilometern pro Stunde segeln, sagt Belov. Ansonsten wurden sie mühsam von Land aus gezogen. Sie hatten wohl einen kleinen Mast und Segel aus Papyrus, wie auch Herodot vermerkte.
Doch wie steuerte man die schweren Schiffe in der Strömung? Auch hier kamen Hinweise von Herodot. Er schrieb über zwei Löcher im Rumpf. Genau zwei solche etwa 30 Zentimeter großen Öffnungen im Heck hatten die Archäologen im Wrack entdeckt, wussten aber zunächst nicht, wie sie diese zu interpretieren hatten. Die Lösung: Es gab eine Ruder- und Steueranlage mit einem Steuermann, der hoch oben auf einer eigenen Plattform an Deck stand und mit zwei langen Ruderblättern durch die Öffnungen das Boot steuerte. Dies reichte zumindest stromaufwärts aus.
Je nach Jahreszeit aber war der Nil ein tückisches Gewässer. Herodot lieferte Hinweise, wie die Lastkähne stromabwärts fuhren: "Sie haben ein Floß aus Tamariskenholz, das mit Schilfmatten umwickelt ist, und einen durchbohrten Stein von etwa zwei Talenten Gewicht; das Floß, das durch ein Seil festgemacht ist, treibt vor dem Schiff, und der Stein wird durch ein anderes Seil hinter ihm befestigt (...). So schwimmt das Floß, angetrieben von der Strömung, schnell und schleppt die Baris (so heißt das Schiff), und der Stein, der auf dem Boden nach hinten zieht, hält den Kurs des Schiffs gerade."
Die Wracks erzählen viele Geschichten. Mehr als die Hälfte Schiffe wurden absichtlich versenkt, teilweise wie bei Schiff 11 aus rituellen Gründen, die kleine, elf Meter lange Prozessionsbarke wurde mit Loch im Rumpf inmitten von Opfergaben am Grund eines Prozessionskanals gefunden. Vor allem die Baris-Schiffe aber wurden nach ihrem Arbeitsleben in die Hafenanlagen integriert, etwa um eine Art Ponton übers Wasser zu bauen oder um dem Meer Land abzutrotzen. Das ungewöhnlichste Wrack war Schiff 61, ein phönizisches Boot - das einzige hochseetaugliche Gefährt. Es stand gerade zum Entladen am Kai, so erzählt Goddio, als in Thonis-Herakleion nach einem Erdrutsch und einer Art schlagartigen Verflüssigung des Bodens Teile der Stadt absackten und zahlreiche Gebäude einstürzten. Steinquader des Amun-Gereb-Tempels krachten auf das Deck des Schiffs und versenkten es, wie auch vier weitere Schiffe, die heute am Meeresgrund im Schlick liegen. An diesem Tag im zweiten Jahrhundert vor Christus ging Thonis-Herakleion unter.