Archäologie:7,5 Gramm Glück

Ein Wochenende lang durfte der kleine Ort Niederstotzingen das älteste Kunstwerk der Menschheit ausstellen.

Tobias Dorfer

Nur eine zentimeterdicke Glasscheibe trennt sie. Dahinter liegt das Objekt seiner Begierde. Walter Leitner schweigt. Er sieht eine Mammutfigur aus Elfenbein: 3,6 Zentimeter lang, 7,5 Gramm schwer, gefunden am Vogelherd, einer Höhle nahe Niederstotzingen auf der Schwäbischen Alb. Wenn die Experten Recht haben, dann könnte die Figur das älteste Kunstwerk der Menschheitsgeschichte sein.

Elfenbein-Mammut

Das Elfenbein-Mammut zog Scharen von Begeisterten nach Niederstotzingen.

(Foto: Foto: dpa)

Ihr Alter wird auf 35.000 Jahre geschätzt. Walter Leitner, Archäologe aus Innsbruck, schaut noch immer in die Vitrine. Dann sprudelt es aus ihm heraus. "Faszinierend. Diese Detailtreue." Seine blauen Augen strahlen. "Ein Bilderbuch der Situation der Tierwelt vor 30.000 Jahren."

Der 57-Jährige bewundert den "Rüssel, der einen leichten Schwung aufweist" und den Schwanzansatz des Tieres. Dann wird er fast schon philosophisch: "Archäologie", sagt Walter Leitner, "Archäologie, das ist Suchen und Finden."

Wir sind Mammut

Nicholas Conard hat gesucht und gefunden. Er leitete das Grabungsteam, das im Juni 2006 auf das Elfenbeintier gestoßen war. Nun hält er einen Vortrag. Es ist Freitagabend, im Schloss von Niederstotzingen findet die offizielle Eröffnung der Ausstellung mit geladenen Gästen statt.

Ein Wochenende lang ist das Mammut hier zu sehen. Nicholas Conard erklärt, wie die Grabungen liefen. In der ersten Reihe sitzen der Bürgermeister, der Landrat und andere Ehrengäste. Walter Leitner aus Innsbruck gehört eigentlich auch dazu.

Doch Leitner hat das Ende von Conards Rede nicht abgewartet. Schon vor dem Ende ist er in den ersten Stock geschlichen. Um das Mammut für sich alleine zu haben. Wenigstens einen kurzen Moment.

Eigentlich sollte das Mammut ja erst 2009 bei der Landesausstellung in Stuttgart präsentiert werden. Doch damit war Gerhard Kieninger, Bürgermeister von Niederstotzingen, überhaupt nicht einverstanden. Deshalb war das Mammut jetzt zumindest ein Wochenende lang dort zu sehen, wo es gefunden wurde: In Niederstotzingen.

Überall in der 5000-Einwohner-Gemeinde sieht man Plakate mit einem überlebensgroßen Abbild des Urzeittiers. Beim Bäcker gibt es eine gebackene Version einer ebenfalls am Vogelherd gefundenen Pferdefigur. Und die Hotels in Niederstotzingen sind seit Tagen ausgebucht. Die Botschaft ist eindeutig: Wir sind Mammut. Und wenn es nur für zwei Tage ist.

Mit 26 Jahren hat der Verwaltungswirt Gerhard Kieninger einst den Chefsessel im Rathaus erobert - er ist der jüngste Bürgermeister, den es in Niederstotzingen gab. Kieningers erster Vorschlag damals war der Bau eines Archäologiemuseums.

Ein Haus, in dem die Funde der Region ein Zuhause hätten finden können. Fördermittel vom Land hätte es auch gegeben. Damals konnte Kieninger das Projekt nicht durchsetzen. Zu teuer, monierte man im Ort. Heute, 20 Jahre später, wittert der Bürgermeister seine Chance.

Nun will er gleich einen ganzen Themenpark am Vogelherd errichten. Dort solle die Steinzeit erlebbar gemacht werden. Kosten: drei Millionen Euro. Ginge es nach Gerhard Kieninger, dann könnte Niederstotzingen schon bald zum steinzeitlichen Touristenmekka werden; dem Legoland im benachbarten Günzburg Konkurrenz machen; und dem Giengener Steiff-Tierchen-Museum.

Bislang war das Thema Archäologie in Niederstotzingen, touristisch betrachtet, ein Rohdiamant. Wertvoll - aber eine Attraktion ist beispielsweise aus der Vogelherdhöhle bislang nicht geworden. Mit der Schule sei sie regelmäßig dort gewesen, erzählt ein Mädchen. Ab und zu würden Jugendgruppen zur Höhle ziehen und dort grillen. "Es gibt hier ja sonst nix", sagt das Mädchen.

Doch nun gibt es das 3,6-Zentimeter-Mammut! In der Ausstellung ist es umzingelt von einem Löwen und einem Pferd. Ebenfalls am Vogelherd gefunden und genauso klein und filigran gearbeitet wie das Mammut. Doch Pferd und Löwe sind - leider - nicht so gut erhalten.

Seine Unversehrtheit macht das Mammut besonders wertvoll. Im italienischen Fumane wurden im Jahr 2000 Kalkfiguren aus der Steinzeit entdeckt, die mit einem Rot-Ockerton bemalt waren. Kunst, zweifelsohne. Aber der Figurenklumpen war nicht zu deuten, sagt Nicholas Conard. Nicht zu vergleichen mit dem Niederstotzinger Mammut.

Ähnliches gilt für die Chauvet-Grotte am französischen Ardèche-Tal. Dort hatten Forscher Höhlenmalereien aus der Steinzeit entdeckt. Ein bedeutender Fund, jedoch sind diese Malereien nur zweidimensional. "Das Mammut", sagt Nicholas Conard, "ist absolut einzigartig."

Immer diese Bruddler

Fünf Themenräume haben die Organisatoren im Schloss aufgebaut. Ein Film über die Urzeit wird gezeigt, ein Zimmer weiter sitzen zwei Archäologen vor brennendem Feuer und stellen Werkzeuge aus der Urzeit her.

Und wer selbst einmal sein Archäologenglück versuchen will, der kann in Raum drei in der Erde nach Fundstücken wühlen. Bevor das Mammut ins Schloss von Niederstotzingen kam, interessierte sich höchstens die Lokalpresse für die Ausgrabungen am Vogelherd. Doch nun schreiben auch alle großen Zeitungen über das Thema - und bilden das Mammut manchmal sogar auf ihren Titelseiten ab.

Keine Frage: Auch in Niederstotzingen gibt es Leute, die sich an solchen Events nicht freuen, sondern lieber darüber nörgeln, dass die Stadt jährlich 10.000 Euro für die Archäologie im Haushalt veranschlagt hat und Kies im Zentrum aufschüttet, damit es um das Schloss herum genügend Parkplätze für die Ausstellungsbesucher gibt. Im Schwäbischen nennt man diese Nörgler "Bruddler".

Der Bruddler äußert Kritik nicht öffentlich. Er meckert hinter den eigenen Gardinen. Bruddler gäbe es genug in Niederstotzingen, sagt ein Alteingesessener, der seinen Namen nicht verraten will. Immerhin werden Bruddler nicht 35 000 Jahre alt. So wie das kleine Mammut, das bei Bürgermeistern und Archäologen noch ungeahnte Kräfte freisetzen könnte.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: