Arbeitspsychologie:Auf den letzten Drücker

Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, heißt es. Aber wer wichtige Aufgaben vertagt, statt sie sofort zu erledigen, macht alles richtig - solange das Aufschieben nicht krankhaft wird.

Katrin Blawat

Wenn es um seine Arbeit geht, versteht Joseph Ferrari keinen Spaß. Immer die gleichen Witze müsse er sich anhören, sagt er verärgert. Nein, wiederholen werde er sie jetzt nicht, das Thema eigne sich überhaupt nicht zum Spaßen. "Die Leute kapieren einfach nicht, dass ein Problem, unter dem jeder fünfte Erwachsene leidet, nicht lustig ist."

Arbeitspsychologie: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Man muss nur früh genug die Kurve kriegen.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Man muss nur früh genug die Kurve kriegen.

(Foto: Foto: istock)

Joseph Ferrari, Psychologe an der De- Paul University in Chicago, hat den Ernst der Lage erfasst. Seine Studienobjekte sind Menschen, die stundenlang die Wohnung aufräumen, statt sich an die längst fällige Steuererklärung zu setzen, Menschen, die die Toilette auf Hochglanz schrubben, um nicht über ihre Altersvorsorge nachdenken zu müssen und solche, die sich vor Jahren ein Sportprogramm vorgenommen, es aber nie begonnen haben. Ferrari forscht über all jene, die Unangenehmes und Mühsames stets auf den nächsten Tag verschieben. Oder den übernächsten. Oder den darauffolgenden.

Prokrastinieren sagt Ferrari dazu. Das heißt auf Lateinisch "vertagen". In dieser Disziplin haben es seine Probanden zur Meisterschaft gebracht. Sie lassen Dinge, die sie selbst als wichtig, aber unangenehm ansehen, so lange unerledigt, bis die letzte Frist verstrichen ist. Oder sie stürzen sich kurz vor knapp in die Arbeit, verzichten auf Essen und Schlaf, um in letzter Sekunde fertig zu werden.

Umfragen in Europa, den USA, Kanada, Peru und Chile ergaben, dass weltweit 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ein ernsthaftes Problem mit ihrer Aufschieberei haben. Überdurchschnittlich häufig sind Studenten betroffen, denn die wenig strukturierten Studienpläne und Abgabetermine, die selbst die Dozenten nicht ernst nehmen, machen sie besonders anfällig fürs Prokrastinieren.

95 Prozent der amerikanischen Studenten schieben zumindest hin und wieder wichtige Dinge vor sich her, schreibt der kanadische Psychologe Piers Steel. Bei etwa der Hälfte von ihnen habe sich das Prokrastinieren bereits zu einer behandlungsbedürftigen Arbeitsstörung entwickelt.

"Mindestens 70 Prozent aller Studenten, die mit Lern- und Leistungsstörungen zu uns kommen, leiden unter einem Aufschiebeproblem", sagt auch Hans-Werner Rückert, der die psychologische Studienberatung der FU Berlin leitet.

Nicht faul, sondern schlecht organisiert

Vehement verteidigt Ferrari die Aufschieber gegen den Vorwurf der Faulheit. Wer faul ist, nimmt sich gar nicht erst vor zu arbeiten und tut konsequenterweise auch nichts. Prokrastinierer dagegen wissen, dass sie etwas tun und wie sie es angehen müssten - nur an der Selbstorganisation und der Umsetzung ihrer Entscheidung hapert es.

Statt sich der eigentlichen Aufgabe anzunehmen, räumen sie auf, kochen, putzen, telefonieren oder schreiben E-Mails. Mehr als ein Drittel ihrer gesamten Tagesaktivitäten verwenden Studenten im Schnitt auf solche Ausweichtätigkeiten, hat Tim Pychyl von der Carleton University im kanadischen Ottawa festgestellt. Pychyl und Ferrari haben als Pioniere die "Procrastination Research Group" gegründet, die bis heute die weltweiten Experten des Aufschiebens vereint.

Immer wieder stoßen die Wissenschaftler in ihren Befragungen auf zwei verhängnisvolle Trugschlüsse, denen Prokrastinierer aufsitzen: den unerschütterlichen Glauben an die Selbstmotivation und an die beruhigende Aussicht auf morgen.

"Aufschieber haben eine genaue Vorstellung davon, was sie morgen alles schaffen können, wenn sie erst ausgeruht und vorbereitet sind", hat auch der Münsteraner Psychologe Fred Rist in vielen Gesprächen mit Studenten erfahren.

Falsch ist daran zweierlei: Die richtige Arbeitsstimmung kommt nicht vom Nachdenken oder Vorbereiten, sondern vom Handeln. Erst mal anfangen mit der ungeliebten Aufgabe, dann wird man sich zumindest irgendwann daran gewöhnen, lautet der Rat des Psychologen. "Außerdem überschätzen wir, was wir in einem begrenzten Zeitraum schaffen können", sagt Rist. Sein Tipp: weniger vornehmen, dafür mehr Ziele erreichen.

Auf den letzten Drücker

"Das Natürlichste der Welt"

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Dass das Prokrastinieren so verbreitet ist, wundert Rist nicht. "Aufschieben ist das Natürlichste der Welt." In prähistorischen Zeiten war es überlebenswichtig, alle Kraft auf den Moment zu richten; es ging um das Bestehen im Hier und Jetzt. Ob es eine Zukunft überhaupt geben würde, war in einer Zeit ohne Supermärkte und medizinische Versorgung äußerst fraglich, argumentiert Nando Pelusi von der St. John's University in New York.

Harte Arbeit, die sich erst in einer ungewissen Zukunft rentieren würde, wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Wo immer der Mensch damit durchkam, übte er sich im Nichtstun.

Bis heute hat sich das Gehirn dieses Prinzip bewahrt. Noch immer schätzt es die unmittelbare Belohnung mehr als ein künftiges Versprechen von Lob und Anerkennung. Eine Einstellung, die auch in der modernen Bürowelt noch von Nutzen ist. Nur wer sich zugesteht, die Reihenfolge seiner Aufgaben selbst festzulegen und dafür eine Angelegenheit auch mal um ein paar Tage zu verschieben, kann effizient arbeiten.

Es zahlt sich schließlich oft aus, abzuwarten und mehr Informationen zu sammeln. Entweder kann man sich der Aufgabe danach sachkundiger widmen oder sie hat sich von selbst erledigt. Wer aber immer alles sofort wegarbeiten will, kommt vor lauter Kleinkram nicht mehr zu den wichtigen Dingen. Nicht nur der Prokrastinierer hat ein Problem damit, seine Aufgaben zu priorisieren, sondern auch der Übereifrige, der nichts liegen lassen kann.

Von Natur aus ist also jeder Mensch ein Aufschieber. Die Kunst besteht darin, den richtigen Moment zu vermeiden, in dem aus kluger Zurückhaltung verhängnisvolles Prokrastinieren wird. Letzteres nämlich fordert irgendwann sogar finanzielle Opfer. Nach einer Hochrechnung von H & R Block, Amerikas größter Steuerberaterfirma, bezahlten die US-Bürger für das Jahr 2002 insgesamt 473 Millionen Dollar zu viel an Steuern, weil 40 Prozent ihre Erklärungen erst in letzter Minute und somit oft fehlerhaft erstellt hatten.

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Zwei Aufschiebetypen

Auch die Gesundheit leidet unter ständigem Prokrastinieren. Dass Aufschieber häufig von Depressionen geplagt werden, ist schon länger bekannt; nun diskutieren Forscher, ob sie Ursache oder Folge des Prokrastinierens sind. Die Kanadierin Fuschia Sirois befragte 122 Studenten während der Prüfungsphase zu ihrem Stressniveau, Gesundheitszustand und den Arbeitsgewohnheiten.

Das Ergebnis war nicht überraschend, aber eindeutig: Die Aufschieber empfanden mehr Stress und litten öfter an Magenschmerzen, Erkältungen und Schlaflosigkeit. Ein anderer Grund für die höhere Krankheitsanfälligkeit mag darin liegen, dass Prokrastinierer auch den Arztbesuch zu lange hinauszögern. In einer Umfrage der Beratungsfirma Gail Kasper bekannten sich dazu 43 von 100 zufällig Befragten.

Anhand von Fragebögen haben Psychologen Persönlichkeitsprofile entwickelt, anhand derer sich grob zwei Aufschiebetypen unterscheiden lassen: Der Vermeidungsaufschieber leidet unter Versagensängsten und der Annahme, seine Umwelt stelle sehr hohe Ansprüche an ihn. Aber auch Perfektionisten prokrastinieren, sagt der Psychologe Hans- Werner Rückert: "Wer meint, jeder seiner Sätze müsse perfekt sein, tut sich schwer damit, überhaupt ein Wort zu schreiben."

Der Vermeidungsaufschieber stellt sich hingegen lieber als faul denn als unfähig dar. "Wenn ich nur früher angefangen und mehr getan hätte, hätte ich auch bessere Ergebnisse erzielt" - ob diese Logik zutrifft, lässt sich nie belegen. Sie schützt aber das Selbstwertgefühl des Aufschiebers.

Angst vor schlechter Bewertung

Ferrari hat in einer Studie gezeigt, dass die Angst vor schlechter Bewertung schuld sein kann, wenn Menschen eine Aufgabe nicht anpacken. In einem ersten Durchgang lud er Probanden zu einem Mathematiktest ein, der, so die Ansage zu Beginn, ihre intellektuellen Fähigkeiten spiegele. Vor den Aufgaben hatten die Studienteilnehmer 15 Minuten Zeit, in denen sie entweder für die kommende Prüfung üben oder sich mit Computerspielen ablenken konnten.

Probanden, die sich zuvor selbst als Prokrastinierer klassifiziert hatten, übten seltener und kürzer für die Rechenaufgabe als die Nichtprokrastinierer. In einem zweiten Durchlauf sagte Ferrari anderen Probanden, dass nach einer Viertelstunde Vorbereitungszeit ein mathematisches Rätsel folgen würde, das Teil eines Spiels sei.

In diesem Durchlauf bereiteten sich Aufschieber und Nichtaufschieber gleichermaßen intensiv auf die Aufgabe vor. Als die Prokrastinierer nicht mehr befürchteten, als dumm dazustehen, verschwand auch ihre Aversion gegen die vorgegebene Aufgabe.

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Der Erregungsaufschieber dagegen braucht den Adrenalinschub, der ihn erst angesichts einer nahenden Abgabefrist kreativ werden lässt, dann aber zur Not tage- und nächtelang am Stück. Ob diese Arbeitsweise Zeichen besonderer Effizienz oder tückischen Selbstbetrugs ist, ist umstritten.

Gesellschaftliche Anerkennung für Erregungsaufschieber

"Wenn man sich lange genug einredet, dass man erst Stunden vor der Deadline arbeiten kann, brennt sich diese Überzeugung irgendwann ins Gehirn ein und wirkt selbstverstärkend", sagt Rückert.

Zudem profitiere der Erregungsaufschieber von gesellschaftlicher Anerkennung: "Man bekommt Bewunderung von der Front intellektueller Arbeiter. Wer immer brav seinen Zeitplan einhält, wird doch höchstens belächelt."

Der Erregungsaufschieber neigt zur Impulsivität und ist häufig in Berufen vertreten, in denen er schnell auf Unvorhergesehenes reagieren muss. Hohe geistige Flexibilität und die Bereitschaft, eine Tätigkeit zugunsten einer neuen, wichtigeren ruhen zu lassen, gehen bei ihm auf Kosten langfristiger Planung.

Beide Aufschiebetypen sind gut beraten, es mit der altbekannten To-do-Liste zu versuchen. "Ohne die geht gar nichts", sagt Fred Rist von der Universität Münster - und relativiert gleich darauf: "Das darf nicht zum Selbstzweck werden.

Es gibt Spezialisten, die beschäftigen sich allein mit dem Erstellen der Liste und glauben, damit sei das Schwerste bereits getan." Doch das ist nicht die einzige Falle: "Man muss das, was auf der Liste steht, auch wirklich wollen - oder sich besser gleich von dem Projekt verabschieden", sagt der Berliner Psychologe Rückert. Andernfalls rebelliere man sofort innerlich gegen den eigenen Plan.

Vor allem Menschen, die gewohnt sind, selbstständig zu arbeiten, fällt es oft schwer, sich einem strikten Zeit- und Aufgabenplan unterzuordnen, weil sie ihre Autonomie bedroht sehen. Damit die Liste ihren Schrecken verliert, sollten auch Belohnungen wie Kaffeetrinken oder Computerspielen daraufstehen. Dann wird sie zum wichtigsten Hilfsmittel, mit dem Prokrastinierer den klassischen Dreischritt lernen, der sie von ihrem Übel befreien kann: hinsetzen, anfangen, durchhalten.

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