Anthropozän - Menschenzeit:Am Beginn eines neuen Erdzeitalters

New York

NEine Aufnahme des Proba-1-Satelliten der Europäischen Raumfahrtbehörde Esa zeigt einen Teil der Stadt New York. Solche Großstädte stellen offensichtliche und langfristige Veränderungen der Erdoberfläche dar. Sollte man augrund des gravierenden Einflusses, den der Mensch auf die Erde ausübt, von der Gegenwart als Anthropozän (Menschenzeit) sprechen?

(Foto: Esa)

Sollten in ferner Zukunft einmal Aliens die Geschichte der Erde untersuchen, werden sie feststellen, dass es in unserer Zeit zu radikalen Veränderungen gekommen ist. Manche Wissenschaftler fordern, die Gegenwart zum Erdzeitalter des Menschen zu erklären. Das Berliner Haus der Kulturen der Welt widmet dem Thema das "Anthropozän-Projekt".

Von Jörg Häntzschel

Die Plakate, mit denen das Haus der Kulturen der Welt seit einigen Wochen Berlin pflastert, zeigen europäische Gesichter, das ist gerade noch erkennbar. Doch sie sind mit grellem Make-up geschminkt, als wären sie Ureinwohner eines imaginären Archipels. Starr ihr Blick wie der vor hundert Jahren von Anthropologen-Kameras gestellten Buschbewohnern. Auch der Titel der viertägigen Konferenz die hier beworben wurde, "Das Anthropozän-Projekt. Eine Eröffnung", trug nicht gerade zur Aufklärung bei. Genau das hatte das HKW natürlich beabsichtigt.

"Anthropozän": diesen Begriff hat vor zehn Jahren der Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen erfunden. Das Holozän, die vergangenen 11 500 Jahre erdgeschichtlicher Stabilität, in dem der Homo Sapiens erschien und sich milliardenfach vermehrte, es sei zu Ende gegangen, so seine These. Wir lebten in einer grundsätzlich neuen Zeit, einer, in der kein Fleck der Erde mehr unberührt vom Fallout menschlicher Aktivität ist; in der die Welt noch in Hunderttausenden von Jahren von den Spuren des Menschen gezeichnet sein wird: der "Menschenzeit".

Seitdem perkoliert der Begriff durch die verschiedensten Disziplinen und in die Öffentlichkeit. Die ersten, die ihn aufgriffen, waren die Geologen, die schließlich zuständig sind für die Definition von Erdzeitaltern. Einer der prominentesten von ihnen ist der britische Forscher Jan Zalasiewicz, der mit Kollegen seit Jahren auf die formale Anerkennung des Anthropozän hinarbeitet.

Seit etwa 1950, dem Moment als die Industrialisierung aus ihrer noch halbwegs verträglichen Frühphase in die der "Great Acceleration" eintrat, hat sich der Mensch auf alle Zeiten hin in die Geologie der Erde eingeschrieben, sagt er. Vergleichbar sei das mit einem Meteoriteneinschlag. "Wenn irgendwann in der Zukunft Aliens auf die Erde kommen und sich durch die Sedimente graben, werden sie über unsere Zeit sagen: Hier geschah etwas, das die Erde radikal verändert hat."

Pedantische Diskussion oder Hilfe zum Verständnis

Holozän, Anthropozän: Auf den ersten Blick erscheint diese Diskussion fast pedantisch. Nicht jedoch für Zalasiewicz und eine wachsende Zahl von Denkern. Sie hoffen, die formale Ausrufung des neuen Erdzeitalters werde helfen, die Tragweite von Klimawandel, Artensterben, Überbevölkerung und das Verschwinden natürlicher Ressourcen in ihrer Gesamtheit zu verstehen.

Es genüge nicht, sie als eine weitere Komplikation in einer komplizierten Welt zu behandeln, als Malheur wie die Finanzkrise, oder sportlich als "Herausforderung". Sie werde den Menschen zwingen, das jahrhundertealte Bild, das er von der Welt und von sich selbst hat, von der Natur und der Zivilisation, durch ein neues zu ersetzen. Nicht-Handeln ist keine Option: "Wir alle sind Akteure des Anthropozän."

Genau das ist auch der Grund dafür, dass das HKW seine brillant organisierte Konferenz nicht mit Fotos zerstörter Landschaften bewarb. Und dass hier nicht erneut zu mehr Recycling oder weniger Autofahren aufgerufen wurde.

Die Vorträge von Naturwissenschaftlern wie Zalasiewicz oder dem Klimatologen Will Steffen, dem neben Crutzen prominentesten Vertreter der Anthropozän-These, dienten denn auch eher als Prologe: So monströs die Dimensionen menschlicher Zerstörung sind, so leicht sind sie illustrierbar: Da sind die Temperaturkurven, die plötzlich aus der Horizontalen in die Vertikale schießen. Der Hinweis, dass nur noch fünf Prozent der Säugetiere Wildtiere sind. Dass es Strände gibt, deren Sand zu 40 Prozent aus Plastik besteht.

Doch so wichtig diese Hinweise sind, so stumpf sind sie als Argumente. Das haben engagierte Wissenschaftler in den 40 Jahren seit "Grenzen des Wachstums" lernen müssen. Auch die Katze, die Zalasiewicz neben sich setzte - 100.000 von ihnen kommen heute auf einen der wenigen übrigen Tiger - verstörte das Publikum nicht weiter. Solange wir also nicht wöchentlich selbst Opfer von Hurrikanen und Buschbränden werden, ist es offenbar nötig, nach effektiveren Formen des Sprechens über die Gegenwart und Zukunft des Planeten zu suchen, neue "Kartografien des Wissens", so Bernd Scherer, der Intendant des HKW.

Genau darin besteht eines der Ziele des Anthropozän-Projekts am HKW. Nicht nur, weil es nicht gelang, mit den konventionellen Diskurs-Instrumenten, die "Lücke zwischen Überzeugung und Motivation" zu schließen. Sondern auch weil die Dichotomie von Natur und Kultur nicht mehr gilt, die die Plünderung der Erdressourcen legitimierte aber auch dem Wissenschaftssystem und seinen Disziplinen zugrunde liegt. "Im Anthropozän können wir nicht mehr mit unterschiedlichen Sprachen sprechen. Es wirft uns alle zusammen", mahnte Zalasiewicz.

Welchen Platz nimmt der Mensch in der Welt ein?

Schließlich stoßen wir mit dem Anthropozän in eine Sphäre vor, die sich nur umreißen lässt, indem das Undenkbare gedacht werden muss: Unsere Vorstellungskraft reicht zwei, drei Generationen weit. Doch der Atommüll, den wir produzieren, strahlt noch in Tausenden von Jahren; 100.000 Jahre werden vergehen, bis das Klima sich normalisiert; und die Arten, die wir auslöschen, sind auf ewig verloren. Das Anthropozän ist also zuallererst eine kognitive Herausforderung.

Klar ist aber auch, dass das Anthropozän Fragen aufwirft, die weit über die Zuständigkeit der Naturwissenschaft hinausreichen. Vor allem die danach, welchen Platz der Mensch in der Welt einnimmt und wie er sich zu ihr verhält. Dass wir Raubbau an der Erde betreiben, ist bekannt.

Doch wie lässt sich der Irrsinn hinter dieser matten Phrase wirklich begreifen? Man kann, schlug einer vor, den Menschen als Empfänger eines jährlichen Budgets regenerierbarer Natur verstehen, das er zur Zeit so schnell aufzehrt, dass er schon ab dem Spätsommer von der Substanz lebt. Man kann die Welt mit einem Organismus vergleichen, in dem der Mensch wütet wie pathologische Zellen.

Von der Vorstellung, Zivilisation und Natur seien getrennte Systeme, die Natur, sei ein Supermarkt, in dem nicht bezahlt wird, müssen wir uns verabschieden. "Wir müssen uns als eine Spezies unter vielen verstehen. Affen unter Affen." Den umgekehrten Weg gehen die esoterischer veranlagten Anhänger der Gaia-Hypothese vor. Sie betrachten die Natur als ein Lebewesen und graben nach vom westlichen Denken verschütteten animistischen und vitalistischen Weltvorstellungen.

Ist die Menschheit wirklich unfähig, ihr Überleben zu sichern? Steffen verwies auf Jared Diamond, nach dem Zivilisationen dann untergingen, wenn es ihnen nicht gelang, ihre Wertesystem an veränderte Bedingungen anzupassen, die also erst dann Was nun? fragten, als sie den allerletzten Baum abgeholzt hatten.

Dennoch, so die Künstlerin und MIT-Professorin Renée Green, existiert durchaus eine abendländische Tradition von der Rücksicht auf die Zukunft bestimmten Handelns: Sei es bei Odysseus, der seine Heimat verließ, um Ruhm zu hinterlassen, sei es in der Kultur des Sparens, die im 19. Jahrhundert noch Teil kapitalistischen Wirtschaftens war.

Klar ist auch, dass das Anthropozän nicht ohne seine politische Komponente denkbar ist. Darauf wies unter anderem Eyal Weizman hin, der sich mit der strategischen Zerstörung von Natur wie bei den "Entlaubungs"-Feldzügen im Vietnam-Krieg beschäftigt. Als Kronzeuge diente ihm ein Vertreter der Gruppe der 77, dem Zusammenschluss von Dritte-Welt-Staaten. Nachdem sich die Industrienationen darauf einigten, eine globale Erwärmung von zwei Grad Celsius sei gerade noch akzeptabel, um katastrophale Folgen zu vermeiden, meinte er trocken: "Eine Erwärmung von zwei Grad bedeutet den sicheren Tod von Afrika."

Es ist viel Paradoxes im Begriff des Anthropozän. Es scheint eine Stabilität zu suggerieren, wo doch die Katastrophe zu erwarten ist. Es macht den Menschen zum Titelheld des Zeitalters, das sein Verschwinden besiegeln könnte. Und wie vermeidet es der Mensch, wenn er sich nun mit den Folgen seines Tuns auseinandersetzt,denselben Herrschaftsinstinkten zu folgen, die ihn erst in die Krise geführt haben? Wir müssen versuchen uns vorzustellen, so die Philosophin Claire Colebrook, was die Welt über uns erzählen wird, wenn wir nicht mehr da sind.

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