Süddeutsche Zeitung

Anthropologie:Nur Menschen teilen gerne ihr Essen

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Von Katrin Blawat

Deutlicher kann man seinen Wunsch kaum äußern: In dem kurzen Videoclip streckt der Orang-Utan seine nach oben geöffnete Hand dem viel größeren Artgenossen entgegen. Der sitzt neben einer Papiertüte, aus der er sich zuvor mit Futter versorgt hat. Das Betteln zeigt Erfolg: Der große Affe - es handelt sich um Bimbo, den Chef der Gruppe - pult sich etwas Futter aus dem Mund und reicht es dem Bittsteller.

Glück gehabt. Rechnen konnte der bettelnde Orang-Utan nämlich kaum damit, dass er etwas von der Leckerei abbekommen würde. Denn vom eigenen Futter freiwillig etwas abzugeben, das steht bei Orang-Utans, Schimpansen und anderen Primaten nicht besonders hoch im Kurs, wie eine Studie in der November-Ausgabe des Fachmagazins Animal Behaviour bestätigt.

Selbst wenn ein Artgenosse unmissverständlich darum bittet, einen Teil abzubekommen, ignorieren die Affen diese Aufforderungen in vielen Fällen. Dabei versteht der Angebettelte durchaus, was der Andere von ihm will. Schließlich gehen sowohl Schimpansen als auch Orang-Utans in anderen Situationen immer wieder bereitwillig auf die Bitten anderer ein. Nur beim Essen, da hört der Spaß offensichtlich schnell auf.

Schimpansen, die etwas abhaben möchten, nehmen es sich einfach

Aus menschlicher Sicht wirkt das einigermaßen unerhört. Zusammen essen und mit einem anderen zu teilen, spätestens wenn er ausdrücklich darum bittet - das macht einen beträchtlichen Teil jenes Kitts aus, der die menschliche Gesellschaft zusammenhält. Dementsprechend früh, nämlich bereits von einem Alter von drei Jahren an, zeigen Kinder die Bereitschaft, anderen auf deren Bitte hin vom eigenen Hab und Gut etwas abzugeben. Warum fällt dies den nicht-menschlichen Primaten dann so schwer? Bei dieser Frage geht es nicht ums Essen allein, sondern auch um die Evolution der vielleicht größten Gabe des Menschen: mit anderen zusammenzuarbeiten.

"Futterteilen ist eine grundlegende Form der Kooperation", schreiben die Anthropologen Adrian Jaeggi von der Emory University und Michael Gurven von der University of California im Fachmagazin Evolutionary Anthropology. Immerhin ist es auch unter Orang-Utans und Schimpansen nicht so, dass einer vor dem vollen Futtersack sitzt und sein Kumpane stets leer ausgeht. Doch möchte einer etwas abhaben, hilft ihm ein kurzer Raubzug mehr als eine höfliche Bitte: Nehmen statt Geben. Toleriert der andere diesen Mundraub, sprechen die Autoren der aktuellen Studie vom sogenannten passiven Teilen.

Dieses mache bei den meisten Primaten bis zu 95 Prozent aller Futterübergaben aus, schreiben Katja Liebal von der Freien Universität (FU) Berlin und Federico Rossano vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Für ihre Studie haben die beiden Wissenschaftler zehn Orang-Utans und 18 Schimpansen des Leipziger Zoos daraufhin beobachtet, wie bereitwillig sie Futter an Artgenossen abgeben oder passives Teilen tolerieren. Das Fazit der Forscher fällt eindeutig aus: "Aktives Teilen von Futter ist rar bei Menschenaffen." Wenn einer doch einmal einen Happen herüberreichen sollte, dann liegt das wohl zum Teil an der Persönlichkeit des Teilenden. "Auch bei Schimpansen ist der eine geselliger oder toleranter als ein anderer", sagt Kathrin Kopp. Sie erforscht ebenfalls an der FU Berlin das Futterteilen, war an der aktuellen Studie aber nicht beteiligt.

Doch keinesfalls teilt ein Affe wahllos mit irgendwem, sondern stets unter präziser Berücksichtigung der Identität des Bittenden. "Futterteilen dient bei Primaten auch dem Aufbau und der Pflege sozialer Bindungen", sagt Kopp. Als ein Team um Joan Silk von der Arizona State University anhand von sechs Gruppen in Gefangenschaft lebender Schimpansen deren Motive fürs Futterteilen untersuchte, kamen die Forscher zu dem Schluss: "Entscheidungen, eine Futterübergabe anzustoßen, zu tolerieren oder sie abzulehnen, spiegeln wohl eine komplexe, wenn auch unbewusste, Kalkulation." Dabei würden die Tiere den Wert des Futters abwägen, ihre Beziehung zu dem Bittsteller, dessen Verhalten in der Vergangenheit sowie die Folgen, falls sie das Gesuch ablehnen.

Der Mensch würde heute weit weniger komfortabel leben

Handelt es sich bei dem Interessenten um ein Jungtier, geht diese Kosten-Nutzen-Rechnung immerhin noch bei der Hälfte von 69 untersuchten Primatenspezies ab und an zugunsten des Interessenten aus. Unter gleichgeschlechtlichen erwachsenen Tieren hingegen gibt es nur bei zehn der untersuchten Arten eine Chance, dass das Betteln zum Erfolg führt, zeigen Jaeggi und Gurven in ihrer Übersichtsarbeit. Oft steht das Teilen dann unter der Bedingung einer - möglicherweise zeitlich versetzten - Gegenleistung wie Fellkraulen.

Dem stellen die Anthropologen das menschliche Zusammenleben gegenüber, in dem oft freiwillig und proaktiv geteilt werde. Diese Großzügigkeit signalisiere einen ehrlichen Willen zur Zusammenarbeit, schreiben Jaeggi und Gurven. Eine ausgefeilte Kooperation wiederum braucht es, wenn die Nahrung nicht einfach nur gejagt, sondern auch verarbeitet werden soll. Homo sapiens würden heute weit weniger komfortabel leben, hätten sie nicht irgendwann die Vorteile der Arbeitsteilung beim Beschaffen und Zubereiten des Essens entdeckt.

Im Idealfall trägt dazu jeder etwas bei. Doch es muss auch für jene Mitglieder der Sippe gesorgt sein, die etwa wegen Krankheit ihren Teil nicht leisten können. Vor allem wenn sie noch im fortpflanzungsfähigen Alter sind, konnten es sich die frühen menschlichen Gesellschaften nicht leisten, diese Mitglieder verhungern zu lassen. Anderen vom eigenen Essen abzugeben, ist dann das kleinere Übel.

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Quelle:
SZ vom 15.11.2017
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