Anthropologie:Endete der Neandertaler in unseren Mägen?

Zu der Frage, woran der Neandertaler starb, gibt es eine erstaunliche neue These: Der moderne Mensch könnte ihn verspeist haben.

Christina Berndt

Es ist gar nicht so lange her, dass der moderne Mensch und der Neandertaler gleichzeitig in Europa lebten. Was wäre, wenn es beide Menschen-Arten noch heute gäbe? Wären Homo sapiens und Neandertaler Nachbarn im Reihenhaus in Castrop-Rauxel und würden sich zur Teamsitzung im Büro treffen? Würden Menschen Neandertaler als Sklaven halten? Oder sie neben Schimpansen und Orang-Utans im Zoo bestaunen?

Neandertaler, dpa

Spätestens 10.000 Jahre nach dem Auftritt des Homo sapiens war der Neandertaler, hier in einer Nachbildung zu sehen, wieder von der Bühne verschwunden.

(Foto: Foto: dpa)

An friedliche Koexistenz glaubt Fernando Rozzi jedenfalls nicht. Der Anthropologe vom Centre National de la Recherche Scientifique in Paris hat nämlich an einem alten Knochen neue Spuren entdeckt (Journal of Anthropological Sciences, Bd.87, S.153). Aus diesen schließt er, dass Homo sapiens den Neandertaler aufgegessen hat. Zumindest manchmal.

Rozzi hat sich einen Kieferknochen eines Neandertalerkindes genauer angesehen, der in der Les-Rois-Höhle in Südwestfrankreich gefunden wurde. An dem Gebein fand Rozzi Spuren von Steinwerkzeugen. Sie deuten seiner Ansicht nach darauf hin, dass das Fleisch samt der Zunge von Menschen gegessen wurde.

Das Fleisch sei auf ähnliche Weise vom Knochen abgelöst worden, wie es Homo sapiens in der frühen Steinzeit auch mit Tieren gemacht hat, sagte Rozzi dem britischen Guardian und folgert: "Neandertaler fanden ein gewaltvolles Ende in unseren Händen." Die Zähne des kleinen Neandertalers seien zudem herausgebrochen und zu einer Kette aufgereiht worden. Jahrelang hätten Menschen versucht, sich vor den Belegen für solcher Art Grausamkeiten zu verstecken. "Aber ich denke, wir müssen nun akzeptieren, dass sie stattfanden."

Rozzi glaubt, mit seinem Fund eines der spannendsten Rätsel der Anthropologie lösen zu können: Weshalb sind die Neandertaler nach Ankunft des modernen Menschen ausgestorben? Zweifelsohne hatten die Neandertaler in hiesigen Breiten die älteren Rechte. Sie haben sich schon vor rund 130.000 Jahren in Europa entwickelt.

Kratzspuren und rituelle Entbeinungen

Vor 40.000 Jahren bekamen sie dann Besuch vom modernen Menschen, der einer weithin akzeptierten Hypothese zufolge aus Afrika zugewandert war. Der gemeinsame Aufenthalt der beiden Menschen-Arten in Europa währte jedoch relativ kurz. Spätestens 10.000 Jahre nach dem Auftritt des Homo sapiens war der Neandertaler wieder von der Bühne verschwunden.

Sein Niedergang lag sicherlich nicht daran, dass der Neandertaler der primitive Wüstling war, als der er lange dargestellt wurde. Vielmehr war er dem modernen Menschen kulturell ebenbürtig. Ein Kunstverständnis hatte er ebenso entwickelt wie Speere und Keilmesser. Und körperlich war der bullige Kraftprotz dem Homo sapiens weit überlegen.

Der Neandertaler-Experte Ralf Schmitz vom Landesmuseum Bonn mag denn auch nicht so recht daran glauben, dass Homo sapiens seinen nächsten Verwandten in großem Stil gegessen hat. "Menschen zu jagen ist ja ein sehr gefährliches Unterfangen", sagt er. "Wenn man ein Rentier erlegt hat, zündet einem dessen Herde hinterher wenigstens nicht die Hütte an."

Die richtige Interpretation von Kratzspuren an Knochen sei zudem äußerst schwierig, sagen sowohl Schmitz als auch Michael Bolus von der Universität Tübingen. Niemand könne ausschließen, dass die Entbeinung eines Toten Teil einer rituellen Handlung gewesen sei. Schnittspuren auf Knochen sind bereits bei beiden Menschen-Arten gefunden worden - bislang allerdings immer zu Zeiten und an Orten, wo nur die eigene Sippe tätig gewesen sein konnte.

Katerina Harvati vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie findet Rozzis Sicht der Dinge nichtsdestotrotz "möglich" und "faszinierend". Allerdings sei es schwierig nachzuweisen, dass ein intensiver Wettstreit zwischen unseren Vorfahren und ihren nahen Verwandten häufig genug vorgekommen sei, um die Neandertaler auszurotten. Auch sei nicht zweifelsfrei nachgewiesen, dass der untersuchte Kieferknochen wirklich von einem Neandertalerkind stamme. "Es könnte auch einfach sein", sagt Harvati, "dass die Menschen in der Les-Rois-Höhle so archaisch waren, dass manche ihrer Eigenschaften an Neandertaler erinnern."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: