Anthropologie:Wozu hat der Mensch ein Kinn?

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Das berühmteste Kinn der Filmgeschichte: Kirk Douglas. (Foto: picture-alliance/obs)

Der Mensch ist das einzige Lebewesen mit einem hervorstehenden Unterkiefer. Dessen Funktion stellt Forscher vor Rätsel.

Von Christian Endt

Der Mensch hält sich für einzigartig. Nur ist es leider sehr schwer, auch wirklich einzigartige Merkmale bei Homo sapiens zu entdecken. Sprechen? Das konnte wohl auch der Neandertaler. Werkzeuggebrauch? Damit kennen sich Schimpansen und sogar Krähen ebenfalls aus. Aufrechter Gang? Im Tierreich sind ziemlich viele Wesen auf zwei Beinen unterwegs. Doch wenigstens ein Merkmal besitzt der Mensch ganz exklusiv: das Kinn. Diese Auswölbung des Unterkiefers kommt bei keinem anderen Wesen vor.

Warum das so ist und wozu das Kinn eigentlich gut ist, beschäftigt Forscher seit mehr als 100 Jahren. James Pampush von der Duke University und David Daegling von der University of Florida haben nun alle Hypothesen noch einmal überprüft, mit denen Wissenschaftler den Sinn des Kinns im Laufe der Jahrzehnte erklärt haben. Dass es etwa gut für den Sex-Appeal sei oder beim Sprechen helfe. Doch die beiden Evolutionsanthropologen stellen fest, dass keine der Theorien überzeugt. Die Frage nach dem Kinn bleibt ein Rätsel.

Im Fachblatt Evolutionary Anthropology unterteilen Pampush und Daegling die Erklärungsversuche in zwei Kategorien. Für Vertreter der ersten Gruppe entstand das Kinn, als der Mensch etwas Neues lernte, etwa das Sprechen. Mit einem Kinn sei das leichter gewesen als ohne, so die Überlegung. Hypothesen der zweiten Kategorie deuten das Kinn als Abfallprodukt der Evolution, als sogenanntes Spandrel. "Man kann das mit einem Ornament in der Architektur vergleichen", sagt Kornelius Kupczik vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Eine dieser Theorien: Durch die Entwicklung des Kochens musste Homo sapiens nicht mehr so fest kauen wie seine Vorfahren. Dadurch bildeten sich Gebiss und Unterkiefer zurück, sie würden sonst nur Energie verbrauchen. Das Kinn könnte ein Überbleibsel des viel dickeren Unterkiefers sein, wie ihn etwa Homo erectus noch hatte. "Wichtig ist, dass das Beiprodukt auf keinen Fall einen Nachteil bringt", sagt Kupczik. Das Kinn existiert demnach, weil es nie gestört hat. Pampush und Daegling überzeugt das nicht, schließlich würde der Mensch noch mehr Energie einsparen, wenn auch das Kinn geschrumpft wäre.

Ebenfalls in die Spandrel-Kategorie fällt die Theorie vom sich selbst domestizierenden Menschen. Mit fortschreitender Entwicklung des Soziallebens war es durchaus ein Vorteil, halbwegs zivilisiert aufzutreten und das Vertrauen seiner Mitmenschen zu gewinnen. Die Evolution begünstigte daher Individuen mit einem niedrigeren Androgenspiegel im Hormonhaushalt. Weniger Androgen führt zu weniger Aggressivität und macht zugleich das Gesicht anmutiger, feingliedriger. Die Knochen schrumpften, das Kinn blieb übrig. Warum aber, fragen Pampush und Daegling, haben dann Hunde kein Kinn? Deren Schnauzen seien ja auch deutlich kleiner als die von Wölfen.

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Es spricht viel gegen die Vorstellung eines sinnfreien Ornaments. Aber ist das ein Argument dafür, dass es doch ein Ergebnis gezielter Anpassung ist? Wieder bringen Forscher das Kauen ins Spiel. Das ist schließlich Hauptaufgabe des Unterkiefers. Auf Dauer ist das Zerkleinern von Nahrung eine hohe Belastung für die Knochen. Mehrere Untersuchungen zeigten aber, dass ein Kinn dabei auch nicht hilft, schreiben Pampush und Daegling: "Die kinnlose Kiefer-Geometrie des Neandertalers senkt den Druck durch das Kauen wirkungsvoller als der menschliche Kiefer mit Kinn."

Andere postulieren, das Kinn diene der sexuellen Selektion. So würden Männer mit ausgeprägtem Kinn als attraktiv empfunden. Das erklärt aber nicht, warum auch Frauen ein Kinn haben. "Die ganz große Mehrheit von Sexualmerkmalen tritt nur bei einem Geschlecht auf", schreiben Pampush und Daegling.

Bleibt die Sprache. Besonders anstrengend ist es zwar nicht, ein paar Worte zu erzeugen. Aber auf Dauer belastet das Reden die Gesichtsknochen. Womöglich ist der Unterkiefer nach vorne verlängert, um diese Kräfte besser auszuhalten. Tatsächlich sei zwar der Mensch das einzige lebende Wesen, das sprechen kann, wenden Pampush und Daegling ein, "aber viele kinnlose Tiere geben beständig Laute von sich".

Kornelius Kupczik ist überzeugt, dass es nicht die eine Erklärung für das Kinn gibt. "Ich denke, da spielen mehrere Faktoren eine Rolle." Man müsste untersuchen, wie sich der Unterkiefer nach der Geburt entwickelt, sagt er: "Neugeborene kommen ohne Kinn auf die Welt." Den Prozess der Kinnbildung genau zu verstehen, wäre "bahnbrechend", so der Anthropologe.

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Möglicherweise hilft das Kinn sogar bei einer anderen ungelösten Frage der Anthropologie. "Vielleicht können wir viel darüber lernen, warum der Neandertaler ausgestorben ist und der Mensch nicht, wenn wir verstehen, warum der eine kein Kinn hat, der andere schon", sagt James Pampush. "Vielleicht ist das Kinn ein Zufall der Evolution. Vielleicht ist dann auch der moderne Mensch irgendwie ein Zufall." Über solche Fragen zu grübeln, macht den Mensch jedenfalls mindestens so einzigartig wie das Kinn.

© SZ vom 04.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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