Es ist ein bemerkenswerter Sommer, den die Antarktis gerade hinter sich hat. Im Februar schrumpfte das Meereis rund um den Kontinent mit 1,9 Millionen Quadratkilometern auf die kleinste Fläche seit 1978, dem Beginn der Satellitenmessungen. Und im März wurden in der Ostantarktis diverse Temperaturrekorde gebrochen. An der russischen Forschungsstation Wostok wurden minus 17,7 Grad Celsius gemessen, mehr als 30 Grad über den üblichen Temperaturen zu dieser Jahreszeit.
Eine Studie im Fachjournal Advances in Atmospheric Sciences geht nun den Ursachen eines dieser Extreme auf den Grund, des Rekordtiefs der sommerlichen Meereisausdehnung, das am 25. Februar erreicht wurde. Dazu ist wichtig zu wissen: Anders als in der Arktis, wo seit Jahrzehnten ein negativer Trend beobachtet wird, wächst die durchschnittliche von Eis bedeckte Fläche rund um die Antarktis bislang sogar geringfügig an, um etwa ein Prozent pro Jahrzehnt. Das Meereis unterliegt jedoch einer starken Schwankung im Jahresverlauf. Grob gesagt schmilzt es von September bis Februar, den Rest des Jahres wächst es wieder an.
Die diesjährige Schmelze sticht laut den Forschern um Jinfei Wang von der Sun-Yat-sen-Universität im chinesischen Zhuhai aber deutlich heraus. So begann der Rückzug des Meereises wohl schon Anfang September und damit früher als sonst im Jahr und verlief dann auch um einiges schneller. Besonders massiv waren die Verluste demnach in der westlichen Amundsensee und dem östlichen Rossmeer, wo am 25. Februar schließlich überhaupt kein Meereis mehr vorhanden war.
Die Klimatologen führen diese Entwicklung unter anderem auf Rekordmeerestemperaturen im vergangenen Jahr auf der Südhalbkugel zurück. Insbesondere in der Amundsensee sei das Meereis dadurch dünner gewesen und entsprechend schneller geschmolzen. Das führt wiederum zu einer sich selbst verstärkenden Rückkopplung: Die dunklere Meeresoberfläche nimmt mehr Wärme auf als das hellere Eis, dadurch steigen die Wassertemperaturen an, und die Schmelze beschleunigt sich - eine Art Teufelskreis.
Zudem fiel die geringe Ausdehnung des Meereises mit dem Klimaphänomen La Niña sowie einem positiven Zustand der antarktischen Oszillation (AAO) zusammen. Unter Letzterer versteht man einen Gürtel aus starken Westwinden rund um die Antarktis. La Niña beeinflusst Wind und Wassertemperaturen im Pazifik. Und beide Phänomene beeinflussen die Luftmassen im Umfeld der Antarktis, was womöglich die starke diesjährige Schmelze teilweise erklärt. Daher spricht die US-Atmosphärenbehörde NOAA davon, dass sich der niedrige Wert von Anfang Februar "wahrscheinlich auf eine natürliche Schwankung statt auf einen langfristigen Trend" zurückführen lasse.
In einem Kommentar im Fachmagazin Nature Reviews Earth & Environment weisen Marilyn Raphael und Mark Handcock von der University of California Los Angeles jedoch darauf hin, dass die sommerliche Meereisausdehnung rund um die Antarktis schon 2017 ein Rekordtief erreicht hatte. Die Schwankungen vor fünf Jahren und in diesem Jahren seien beispiellos. "Sie könnten einen Wechsel im antarktischen Meereissystem als Antwort auf die menschengemachte Erwärmung signalisieren", schreiben die Klimaforscher. Das müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich das Meereis von nun an immer stärker zurückzieht. Eher könnten deutliche Schwankungen in die eine oder andere Richtung zunehmen. So war erst 2014 während des antarktischen Winters eine Rekordausdehnung des Meereises gemessen worden. "Diese Rekordfluktuationen", schreiben Raphael und Handcock, "deuten auf eine neue Periode der Extreme hin."