Süddeutsche Zeitung

Klimawandel:Wie rasch drei Gletscher in der Antarktis schwinden

Mit neuen Satelliten konnten Wissenschaftler den Rückzug der drei Gletscher in der Antarktis so genau wie nie zuvor vermessen - und stießen dabei auf eine unliebsame Entdeckung.

Von Benjamin von Brackel

Pope, Smith und Kohler: Von diesen drei Gletschern in der Westantarktis haben bislang wohl die wenigsten gehört, stehen sie doch im Schatten der großen Nachbarn - des Thwaites- und Pine-Island-Gletschers. Diese verlieren seit Jahrzehnten zunehmend Eis. Würden sie komplett abschmelzen, könnten sie den Meeresspiegel um 1,2 Meter heben sowie den Rest der Westantarktis destabilisieren. Das Eisvolumen von Pope, Smith und Kohler nimmt sich mit einem Äquivalent von sechs Zentimetern Meeresspiegelanstieg vergleichsweise mickrig aus. Und doch sollte man sich ihre Namen merken.

Denn diese kleineren Gletscher schmelzen schneller als erwartet, ihr Schelfeis wird immer dünner, wie eine Gruppe von Wissenschaftlern aus den USA und Europa kürzlich im Fachblatt Nature Geosciences dargelegt hat. "Die Gletscher haben sich schneller zurückgezogen als die Gletscher in den Alpen", sagt Hauptautor Pietro Milillo von der Universität Houston. "Das sind schlechte Nachrichten für uns."

Denn die Schmelzprozesse dürften für andere Gletscher rund um die Amundsensee ganz ähnlich ablaufen. "Wenn die Gletscher überall auf der Westantarktis so schnell schmelzen, haben wir richtige Probleme", sagt Paola Rizzoli vom Institut für Hochfrequenztechnik und Radarsysteme des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR) in Oberpfaffenhofen, die an der Studie beteiligt war.

Wo andere ein relativ intaktes Eisschelf sehen, fängt Rizzoli an, misstrauisch zu werden. Die Fernerkundungsexpertin weiß, dass das, was Satellitenbilder oder Luftaufnahmen von der Antarktis abbilden, bestenfalls nur die halbe Wahrheit darstellt. Das Wesentliche entzieht sich unseren Blicken, denn es spielt sich an der Unterseite der Gletscher ab.

"Ein Gletscher verhält sich wie ein Kaugummi"

Lange war unklar, was unter der dicken Eisschicht überhaupt passiert. Zu Beginn des Jahres 2020 bohrten Forscher 600 Meter durchs Schelfeis des Thwaites-Gletschers und ließen einen Tauchroboter hinab. Dieser stieß auf warmes Tiefenwasser, das das Schelfeis unterspülte. Allerdings sind solche Bohrungen nur punktuell und in unregelmäßigen Abständen möglich. Rizzoli hingegen muss nicht erst Jahre warten, um die Prozesse unterm Eis studieren zu können. Sie kann diese im Monatsrhythmus analysieren; und zwar großflächig - dank einer neuen Generation von Radarsatelliten.

Seit Oktober 2010 kreist zum Beispiel ein Radarsatellit namens Tandem-X um die Erde und fliegt leicht versetzt zum fast baugleichen Satelliten Terrasar-X, der an einen übergroßen Goldbarren erinnert. Im Gegensatz zu Satelliten mit optischen Sensoren können jene Zwillingssatelliten mit ihren Radarsystemen dicke Wolkenschichten und Dunkelheit durchdringen und selbst in der Polarnacht die Erdoberfläche abtasten.

Einer der beiden Satelliten sendet elektromagnetische Strahlen aus, welche vom Erdboden zurückstreuen und von beiden Radarsatelliten wieder empfangen werden. Je nach Untergrund ist die Rückstreuung stärker oder schwächer. Und dank des Abstands zwischen beiden Satelliten lässt sich mittels der sogenannten Interferometrie ein dreidimensionales Höhenmodell erzeugen. Aus Zahlen wird eine topografische Karte. Und aus der Karte wird über die Jahre eine genaue Abbildung der Schmelzprozesse in der Westantarktis.

Wissenschaftler vermuten, dass eine Veränderung der Westwinde rund um die Antarktis das warme Tiefenwasser in die Amundsenbucht geführt hat, welches nun das Schelfeis unterspült. Der Smith-Gletscher etwa - so wiesen Milillo und seine Kollegen nach - schmolz zwischen 2011 und 2019 über Land um fünf Meter pro Jahr ab, an der frei schwimmenden Gletscherunterseite aber sogar um rund 22 Meter pro Jahr.

Durch diese Aushöhlung wandert auch die Aufsetzlinie von Pope, Smith und Kohler immer weiter zurück, also die Grenze, an der das Eis den Kontakt zum Festland verliert und anfängt, aufs Wasser hinauszuragen. Allein im Jahr 2017 zog sich etwa der Pope-Gletscher in nicht einmal vier Monaten um 3,5 Kilometer zurück. Und das hat Folgen: Weil das Gletscherbett zum Inland hin abfällt, wandert die Aufsetzlinie nach unten und die Eisdicke darüber nimmt zu. Aufgrund der Schwerkraft geraten die Auslassgletscher damit noch stärker ins Rutschen und mehr Eis geht verloren. Das führt wiederum dazu, dass der Gletscher noch schneller ausdünnt. "Ein Gletscher verhält sich wie ein Kaugummi", sagt Milillo. "Je schneller er fließt, desto dünner wird er."

Für Paola Rizzoli sind die neuen Erkenntnisse beunruhigend. "Wir sehen eine Beschleunigung dieser Phänomene, die in den Modellen bislang nicht berücksichtigt worden waren", sagt die DLR-Forscherin. "Die Gefahr ist, dass das gesamte Westantarktische Eisschild instabil wird."

Mit dem neuen Wissen, was sich an und unter den Auslassgletschern der Westantarktis tatsächlich abspielt, lassen sich nun Klimamodelle füttern. Und damit viel genauere Prognosen als bisher zum Meeresspiegelanstieg erstellen. "Vermutlich haben wir das Ausmaß bislang unterschätzt", sagt Milillo.

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