PsychologieFaszination Selbstqual: Warum wir uns freiwillig plagen

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Abstrampeln ohne Sinn: Warum quälen sich manche Menschen so sehr?
Abstrampeln ohne Sinn: Warum quälen sich manche Menschen so sehr? (Foto: Oscar Carrascosa Martinez/Westen)

Marathon, Heimwerken, Denkarbeit: Menschen suchen aktiv Herausforderungen, obwohl doch eigentlich immer auch das Sofa lockt. Warum ist das so?

Von Sebastian Herrmann

Ein weiser Mann sprach einst die folgenden Worte. „Währenddessen ist es oft scheiße, aber danach ist alles besser.“ Der Mann saß auf dem Sattel eines Rennrads, als er diesen Satz äußerte, und er gebrauchte dabei wirklich das vertraute Fäkalwort. Die Diskussion drehte sich gerade um die Frage, warum in aller Welt man auf die Idee komme, elend lange Touren auf dem Rad zu fahren und Stunde um Stunde in die Pedale zu treten, nur um wieder am Ausgangspunkt der Runde anzukommen.

Es ist die Standardfrage, das Urrätsel des Ausdauersports: Warum sich anstrengen, wenn ein Platz auf dem Sofa frei ist? Warum sich stundenlang einer zehrenden, teils schmerzhaften Tätigkeit hingeben, statt angenehme Dinge zu genießen? Was treibt an, sich freiwillig anzustrengen und an die Grenze zur vollkommenen Erschöpfung zu fahren? Weil danach alles besser ist, weil alles zur Belohnung wird, wenn das Ziel erreicht ist, die Dusche, ein Bier, das Essen, das Bett, einfach alles. Die ganze Plackerei also nur, um die objektiv spärliche Belohnung am Schluss zu intensivieren?

„Aufwand nimmt einen eigentümlichen Platz im menschlichen Verhalten und in der Psychologie ein – er wird zugleich verachtet und geschätzt, gemieden und angestrebt“, schreiben Psychologen um Michael Inzlicht von der University of Toronto, Kanada, als hätten sie sich an der Diskussion im Sattel beteiligt. In ihrem aktuellen Beitrag in Advances in Experimental Social Psychology kreisen die Wissenschaftler jedenfalls um die gleiche Frage: Warum setzen sich Menschen freiwillig großer Anstrengung aus und schätzen diese gar, wenn sie auf der anderen Seite Aufwand als aversiv empfinden und meiden? Inzlicht sowie seine Kollegen Aidan Campbell und Blair Saunders bezeichnen das beschriebene Spannungsfeld als „Effort Paradox“ (Anstrengungsparadoxon) und diskutieren mögliche Erklärungen dafür, warum sich Menschen in manchen Feldern bewusst anstrengen.

Als Paradoxon lässt sich das Phänomen bezeichnen, weil sich Menschen, Tiere und Organismen im Allgemeinen in der Regel vom Prinzip des geringsten Aufwands leiten lassen. Dieses Muster hat sich in zahlreichen empirischen Studien bei Mensch und Tier gezeigt: Wann immer möglich, wird der kleinstmögliche physische Aufwand betrieben, um eine Belohnung zu erreichen. Warum sich auch mehr anstrengen, wenn am Ende dasselbe dabei herausspringt? Genau, ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss, und ein guter Angestellter reißt sich kein Bein aus, wenn es dafür keine Extra-Gratifikation gibt, oder?

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Das Prinzip des geringsten Aufwands gilt nicht nur für physische Anstrengung, sondern auch für kognitive. Die Psychologinnen Susan Fiske und Shelley Taylor bezeichneten die Menschen an und für sich 1984 in einer Publikation als „kognitive Geizkragen“. Heißt: Auch nachzudenken strengt an, kann Aversionen auslösen und wird deshalb gerne vermieden und reduziert. Als ein Ausdruck dieser generellen menschlichen Tendenz verweisen die Psychologen um Inzlicht in ihrem Beitrag auf die Allgegenwart kognitiver Heuristiken. Mit diesen mentalen Faustregeln und Abkürzungen reduzieren Menschen Aufwand und Energie, die sie in ansonsten kognitiv fordernde Tätigkeiten stecken müssten.

Anstrengung als Quelle der Selbstfindung

Trotzdem lieben es viele, Schach zu spielen, Sudokus zu lösen, komplexe Texte zu lesen oder gar zu schreiben, Sprachen zu lernen, Dinge zu konstruieren. Sie laufen Marathon, begeben sich auf mehrere Hundert Kilometer lange Abenteuer auf dem Fahrrad oder strengen sich sonst wie an. Also: Was soll das?

„Wenn Menschen sich auf so etwas einlassen“, schreiben die Psychologen um Inzlicht, „betrachten sie ihre Anstrengungen als Quelle von Sinnhaftigkeit, Meisterschaft und Selbstfindung.“ An dieser Stelle verwandelt sich die Sache in ein Paradoxon: Offenbar verändern Aufwand und Anstrengung die Bewertung eines Ergebnisses zum Positiven.

Auch dafür existieren zahlreiche experimentelle, empirische Hinweise. Dieselbe Belohnung gilt als wertvoller, wenn sie Aufwand gekostet hat. Mentale oder physische Anstrengung veredelt ein Ergebnis. Wer zum Beispiel ein Möbelstück selbst zusammengeschraubt hat, findet es anschließend oft schöner oder besser, als wenn er es fertig erworben hätte. Ein Umstand, der als Ikea-Effekt bekannt ist. Einen Berggipfel zu Fuß statt mit der Seilbahn zu erreichen, steigert den Moment des Glücks unter dem Gipfelkreuz. Dann schmeckt auch die Brotzeit besser als im Tal. Während des Aufstiegs mag es nicht immer Spaß machen, aber im Ziel – siehe die eingangs erwähnte Satteldiskussion – veredelt die Anstrengung das Erlebnis.

Betriebener Aufwand erhöht zudem den moralischen Wert entsprechender Aktionen. Wer Gutes tut und sich dabei anstrengen muss, trägt einen helleren Heiligenschein als derjenige, der die gute Tat aus dem Ärmel schüttelt. Und auch andersherum funktioniert dieser Zusammenhang, berichten Inzlicht und seine Kollegen: Angesichts großer Belohnung gehen Probanden automatisch davon aus, dass auf dem Weg dorthin auch großer Aufwand betrieben wurde.

Bleibt die Frage: Warum kann Anstrengung Sinn stiften und die Bewertung einer Belohnung steigern? Dafür bieten Inzlicht und Kollegen mehrere mögliche Erklärungen an. „Anstrengung wirkt insbesondere dann belohnend, wenn Erfolg damit verbunden ist“, schreiben die Psychologen. Klar, das liegt auf der Hand: Wer sich nach den Sternen streckt und sie auch erreicht, der wird seine Mühen als Weg zum Glück betrachten und preisen. Aber – hier kommt die Einschränkung – was zählt als Erfolg?

Nach einem einsamen Lauf das Ziel zu erreichen oder die Lösung eines komplexen Problems, allein erdacht am Schreibtisch? Der Applaus anderer Menschen? Der eigene Stolz im Stillen? Geld? Gewiss scheint zu sein, dass es einen Anstrengungs-Sweet-Spot gibt, unter und über dem Aufwand an positiver Wirkung verliert. Wo dieser Punkt aber verortet ist, hängt von der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen ab – wie überhaupt der Charakter prägt, wie sehr sich jemand in die Anstrengung begibt oder sie meidet.

Im Schweiße unseres Angesichts

Es könnte oder dürfte evolutionär erlernt sein, Aufwand und Anstrengung zu ertragen und auch zu suchen. Etwas zu erdulden, trägt dazu bei, motiviert zu bleiben und Ziele zu erreichen – ein Umstand, der dem Überleben dienlich ist. So sei es plausibel, argumentieren die Psychologen um Inzlicht, dass ein simpler Lernmechanismus im Spiel sei: Weil Aufwand meist mit Belohnungen beziehungsweise dem Erreichen von Zielen verbunden ist, bilden sich entsprechend konditionierte Verknüpfungen aus. So könnte sich über eine Art Training eine positive Verbindung zwischen Anstrengung und Belohnung ausbilden. Dies werde auch kulturell verstärkt, wie etwa im Falle von Arbeit: Fleiß gelte meist als Tugend, so Inzlicht und Kollegen. Da ist es wieder, das Muster: Eine Belohnung ist wertvoller, wenn sie im Schweiße des Angesichts verdient wurde.

Oft aber – damit zurück in den Sattel – wird Aufwand erst in der Retrospektive neu bewertet und geradezu verklärt. Während der Anstrengung lautet der stille Schwur der Sportler, Denker und Arbeiter, so etwas Aufwendiges, Frustrierendes, Forderndes nie wieder zu tun – nie, nie wieder. Doch am Ziel setzt Rationalisierung im Sinne der klassischen Theorie der kognitiven Dissonanz des Sozialpsychologen Leon Festinger ein: Für irgendetwas müssen Schweiß, Schmerz und Mühsal gut gewesen sein, sonst bliebe nur der Gedanke, dass alles sinnlos war und man selbst ein Rindvieh, so etwas zu machen. Diese Einsicht aber strengt den Geist zu sehr an, diese Gedanken schmerzen zu arg. Also wird lieber verklärt, das erreichte Ziel überhöht, die Mühsal zur Heldentat verklärt und die erlangte Belohnung zur persönlichen Goldmedaille gemünzt – egal wie klein diese Belohnung objektiv ist.

Anstrengung, Arbeit und Aufwand seien Teil menschlicher Erfüllung, so das Fazit der Psychologen um Inzlicht, und das Aufwandsparadoxon ein Fenster zur Komplexität menschlicher Motivation. Also, weiter geht es, weiter, immer weiter, denn ohne Anstrengung lässt sich das Leben nicht spüren.

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