Im November 2016 reiste Adriane Esquivel Muelbert in die entlegensten Gebiete des Amazonas-Regenwalds, um Bäume zu vermessen. Mit ihrem Team aus Köchen, Kletterern und Biologen marschierte die gebürtige Brasilianerin oft viele Kilometer durch den Wald, wobei allen unter Bedingungen wie in einem Dampfbad der Schweiß von der Stirn rann. Oft mussten sich die Mitglieder der Expedition stundenlang zu ihrem Zielort durchschlagen, nur um festzustellen, dass schon vor ihnen jemand da gewesen war und Bäume gefällt hatte.
Damit konnten sie gleich wieder umkehren und das regenfeste Papier auf ihren Klemmbrettern blieb leer. Denn die Biologin von der School of Geography der Universität Leeds interessierte sich nur für Waldstücke, die unberührt vom Menschen geblieben waren. Schließlich wollte sie den Einfluss des Klimawandels auf den Wald untersuchen und musste alle anderen menschlichen Einflüsse ausschließen. Im Bundesstaat Mato Grosso, dem Zentrum der Entwaldung Brasiliens, sei es ihr deshalb am schwersten gefallen, Waldgebiete zu finden, die für ihre Untersuchungen geeignet waren, erzählt sie.
Esquivel Muelbert leitet eine einzigartige Langzeitstudie: Über hundert Biologen haben in den vergangenen 30 Jahren insgesamt 106 Parzellen im Amazonas-Regenwald regelmäßig begutachtet. Sie markierten die Bäume, identifizierten die Gattung und bestimmten den Stammdurchmesser. Zugleich erhoben sie Klimadaten. Damit wollten sie überprüfen, ob sich der Wald aufgrund des Klimawandels verändert. Kritiker des Projekts hatten bezweifelt, dass sich eine Veränderung schon nach so kurzer Zeit ablesen lasse. Doch genau das ist der Fall. "Der Wald beginnt sich bereits zu wandeln", sagt Esquivel Muelbert. "Er nimmt allmählich einen anderen Charakter an.
Das Wetter im Amazonas-Regenwald ist extremer geworden; die Trockenphasen werden trockener, die Regenphasen nasser. In nur einer Dekade hat das Amazonasgebiet drei schwere Dürren erlebt: 2005, 2010 und 2015/2016. Im Süden des Waldsystems ist die Zahl der Regenfälle um ein Viertel eingebrochen. Das komplexe System aus Wald, Waldbewohnern und Wasserkreislauf scheint aus dem Lot zu geraten. Dazu kommt, dass Brasiliens neuer Präsident Jair Bolsonaro den Regenwald für die Rinderfarmer freigeben und Schutzgebiete auflösen will. Schon während des Wahlkampfs stiegen die Entwaldungsraten sprunghaft an, wie Satellitenbeobachtungsdaten zeigten - wohl wegen der Erwartung der Holzfäller, in Zukunft keine Sanktionen mehr befürchten zu müssen.
Das Ökosystem kann sich den veränderten Bedingungen nicht schnell genug anpassen
Die Frage ist nun: Wie lange kann der Amazonas-Regenwald seine Funktion als grüne Lunge und größter CO2-Speicher der Erde, als Herberge der meisten Arten auf der Welt und als Regenspender des halben südamerikanischen Kontinents noch erfüllen? Wenn Esquivel Muelbert durch den Amazonas-Regenwald streift, erlebt sie jedes Mal etwas Neues, erzählt sie. Mal hört sie einen Jaguar, mal sieht sie Affen in den Bäumen herumtollen oder bestaunt die verschiedenen Nuancen des Grüns. "Die Biodiversität springt einen regelrecht an", sagt sie.
Aber schon während ihrer Exkursionen wurde ihr klar, dass sich etwas verändert hat: Selbst an vom Menschen unberührten Orten zeigten sich offene Stellen im Wald, wo vereinzelt junge, schnell wachsende Hölzer wie Paranuss- oder Ameisenbäume standen. Das ist auch das Ergebnis ihrer Studie, die kürzlich im Fachmagazin Global Change Biology erschienen ist: Die feuchtigkeitsliebenden Bäume sterben unter den neuen Extrembedingungen ab, während die an Dürre angepassten Bäume die Lücke nicht schnell genug füllen können. "Die Reaktion des Ökosystems hängt der Rate des Klimawandels hinterher", sagt Esquivel Muelbert. Auch die Zahl der meisten Palmenarten hat deutlich abgenommen - mit einer Ausnahme: Die Assaipalme hat sich stark ausgebreitet. Es gibt also viele Verlierer und ein paar Gewinner, insgesamt degradiert das Ökosystem und die Biodiversität nimmt ab. Eine langsame Umstellung hin zu einem trockeneren Amazonas ist im Gange.
Der Amazonas-Regenwald ist mit seinen Tausenden Baumarten eines der faszinierendsten Ökosysteme der Welt. Es funktioniert nur, weil es sich selbst mit Regen versorgt. Luftströme vom Atlantik leiten Feuchtigkeit in das Amazonasgebiet und es regnet herab. Gäbe es keinen Wald, würde das meiste Wasser einfach abfließen. Die Bäume aber saugen mit ihren Wurzeln das Wasser aus dem Boden und entlassen einen Teil davon über ihre Blätter wieder in die Luft. Geschieht dies milliardenfach wie im Amazonas-Regenwald, bildet sich eine eigene feuchte Atmosphärenschicht - Flüsse in der Luft.
Das Wasser steigt immer wieder in die Luftmassen zurück, die nach Westen bis an den Rand der Anden wandern, dort abregnen und damit den Großteil der Flüsse im Amazonasgebiet speisen. Selbst Regionen bis nach Nordargentinien versorgt das Zirkulationssystem mit Feuchtigkeit. Allerdings ist es ein fragiles System. "Ab einem bestimmten Grad an Entwaldung bricht dieser Kreislauf zusammen", sagt der US-Biologe Thomas Lovejoy. "Und das würde auch die Landwirtschaft außerhalb des Regenwalds treffen."
Anfang des vergangenen Jahres hat Lovejoy, der als Vater des Begriffs "Biodiversität" gilt, zusammen mit dem brasilianischen Klimaforscher Carlos Nobre berechnet, dass der Kipppunkt für den Amazonas-Regenwald viel näher liegen könnte, als bislang gedacht. Statt 30 bis 40 Prozent Entwaldung würden wohl schon etwa 20 Prozent genügen, um das System aus dem Lot zu bringen, schrieben die beiden Wissenschaftler in einem Editorial für das Fachblatt Science, das im Februar 2018 erschienen ist.
Der Wasserkreislauf, der das ganze System speist, könnte ins Stottern kommen
Schon heute hat der brasilianische Regenwald etwa ein Fünftel seiner Waldfläche verloren und ist - zumindest aus Sicht des US-Biologen - an der gefährlichen Schwelle angelangt, ab der der Wasserkreislauf zu versagen beginnt. Dazu kommen weitere Faktoren, die den Amazonas-Regenwald unter Druck setzen. "Brandrodung, Abholzung und Klimawandel erzeugen eine negative Synergie und könnten den Wald in eine Savanne verwandeln", warnt Lovejoy.
Je stärker die Waldflächen zerstückelt sind, desto schlechter können sie dem Klimawandel trotzen. Sie bieten Wind und Sonne mehr Angriffsfläche und sind deshalb weniger widerstandsfähig gegenüber Dürren. Kommt außerdem der Wasserkreislauf ins Stottern, verstärken sich die Dürren und der Regimewechsel hin zu hitzetoleranten, schnell wachsenden Baumarten beschleunigt sich weiter. Um dem entgegenzuwirken, schlägt Lovejoy eine "Sicherheitsmarge" vor: eine Aufforstung des Amazonas-Regenwalds, um sich wieder von der gefährlichen Schwelle zum Kipppunkt zu entfernen. "Ich hoffe, die Regierung versteht sehr bald, dass sie das Amazonasgebiet als Gesamtsystem verwalten muss", sagt Lovejoy.
Esquivel Muelbert setzt auf den Druck durch die Bevölkerung und die Wissenschaftler. "Viele Menschen in Brasilien haben verstanden, wie wichtig der Amazonas-Regenwald ist", sagt die Biologin. "Ich würde so gerne hoffen, dass das Wissen darüber den Wald schützt."