Aids in der Ukraine:Ein Land schweigt sich tot

Die Immunschwächekrankheit Aids ist in der Ukraine zur Epidemie geworden. Doch das Leiden gilt als Tabuthema und wird kaum bekämpft.

Cathrin Kahlweit

"Ich wollte Menschen helfen, um die sich niemand kümmert", sagt Ludmilla Striga. Deshalb hat die Ärztin aus dem ukrainischen Donezk, die früher in einem ganz normalen Krankenhaus gearbeitet hat, einen Schritt gewagt, der ihr viel Misstrauen und Ungläubigkeit eingebracht hat bei Freunden wie Kollegen: Sie arbeitet seit einigen Jahren in einer Aidsklinik.

Aids in der Ukraine: Von allen verlassen: HIV-infizierte Kinder in einem Heim in der Ostukraine.

Von allen verlassen: HIV-infizierte Kinder in einem Heim in der Ostukraine.

(Foto: Foto: AFP)

Dazu gehört Mut in der Ukraine, wo Aidskranke etwa so stigmatisiert sind wie Teufelsanbeter im Vatikan, wo viele Krankenhäuser HIV-Infizierten schlicht die Behandlung verweigern, wo Infizierte gewöhnlich verschweigen, dass sie den Virus in sich tragen, weil sie dann gesellschaftlich geächtet wären.

Wo infizierte Straßenkinder nach dem Aidstest schon mal wieder auf die Straße zurückgeschickt werden, weil sich niemand um Jugendliche kümmern will, die sowieso bald sterben. Und wo die meisten Ukrainer ohnehin nicht wissen, ob sie sich angesteckt haben. Denn kaum jemand lässt sich auf Verdacht testen. Aids ist tabu.

Und Aids ist eine Epidemie im dem osteuropäischen Land. Es gibt in der Ukraine mehr Kranke als in allen anderen europäischen Ländern oder der GUS. Allein 2007 ist die Zahl der HIV-Infizierten um zehn Prozent gestiegen, sie liegt derzeit nach Schätzungen bei 440.000 Virus-Trägern, jeder Zehnte ist laut Unicef ein Kind. Und die Ukraine hat nur 47 Millionen Einwohner. Am Welt-Aids-Tag, dem 1. Dezember, richtet sich deshalb auch ein besonderes Augenmerk auf dieses Land.

Zahlen einer Katastrophe

Ludmilla Striga versucht in der kleinen Aidsklinik mit ihren 60 Betten Medizin, Psychologie und Prävention gleichzeitig zu betreiben. Aber, so klagt sie, an der Unterstützung von offizieller Seite hapere es leider.

Seit die epidemischen Ausmaße von Aids in ihrem Land 300 Nichtregierungsorganisationen auf den Plan gerufen und Millionenspenden aus aller Welt in die Ukraine gespült haben, kämpft alle Welt gegen die Krankheit und für die Opfer. Nur die Regierung tut sich schwer; und das nicht nur, weil die politische Lage chaotisch und die Bürokratie restlos überfordert ist.

Schwerer noch wiegt: Kaum eine nationale Stelle fühlt sich für Hochrisikogruppen wie Drogensüchtige, Homosexuelle und Prostituierte zuständig. Sex-Tourismus und Gelegenheitsprostitution florieren. Die Armut führt dazu, dass immer mehr junge Frauen ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit aufbessern. Auch Drogen sind gerade unter Jugendlichen weit verbreitet; oft werden gemeinsame Spritzen verwendet, was die Ansteckungsrate nach oben schießen lässt.

In einem vorläufigen Bericht der "National Aids Response in Ukraine", einer gemeinsamen Untersuchung Dutzender Organisationen von den UN über die Weltbank bis zum Peace Corps, ist das Ausmaß der Katastrophe zusammengefasst. Unter den neu gemeldeten Fällen sind 40 Prozent Drogenkonsumenten, 38 Prozent hätten sich beim Geschlechtsverkehr angesteckt, in 19 Prozent der Fälle wurde das Virus von infizierten Müttern auf ihre Kinder übertragen. 0,5 Prozent aller schwangeren Frauen in der Ukraine tragen das Virus in sich, auch das ist die höchste Rate in Europa und Zentralasien.

Zwar ist zumindest bei Schwangeren ein Aidstest eingeführt worden, aber noch immer wissen viele Ärzte nicht, dass sich die Infizierung des Babys durch einen Kaiserschnitt vermeiden lässt, er wird auch bei aidskranken Frauen nicht immer vorgenommen. Und infizierte Kinder? Die kommen oft in gesonderte Kinderheime, die Mütter geben sie weg, und niemand will sie haben. Der Bericht listet auf 190 Seiten auf, warum der Kampf gegen Aids in der Ukraine so schrecklich schiefläuft.

Ein Land schweigt sich tot

Das fängt an mit "Prävention bei Hochrisiko-Gruppen; Bedeutung: hoch, Fortschritt: gering"; für das "Staatliche Aidsprogramm" gilt: "Bedeutung hoch, Fortschritt ungenügend"; und bei Medikamentenbeschaffung steht gar: "inakzeptabel". Anja Teltschik, die seit 2003 in der Ukraine lebt und sich als Beraterin für internationale Organisationen auf Aids spezialisiert hat, hat wenig Hoffnung.

"Bisher haben unsere Bemühungen wenig gefruchtet; wir haben die Epidemie nicht im Griff. Viele Familien sind zerstört, das Land ist kaputt, die Regierung instabil und nicht bereit, eine Führungsrolle in der Prävention zu übernehmen." Aufklärung werde zu wenig und unsystematisch betrieben; Hilfe aus Ignoranz verweigert.

Kranke Kinder vor die Tür!

Teltschik erzählt von einer infizierten Freundin aus Odessa. Sie hatte eine Zahnoperation, der Zahnarzt schlampte, sie bekam eine schwere Infektion und brauchte dringend Hilfe, aber alle Krankenhäuser der Stadt wiesen sie ab. Sie hatte nämlich diesmal, anders als beim Zahnarzt, ihre Infektion angegeben. Die Frau drohte zu sterben, nur durch die Hilfe internationaler Organisationen konnte sie nach Kiew gebracht und gerettet werden.

Und Teltschik erzählt von einem Jungen, der kein Zuhause hatte, keine Familie. "Er gehörte zur Hochrisikogruppe: Straßenkind, drogenabhängig, gelegentlich verkaufte er seinen Körper." Er lebte in einer Notunterkunft für Obdachlose; bei einem Zwangstest, der eigentlich gesetzlich verboten ist, wurde seine HIV-Infektion festgestellt. "Der Junge wurde nicht mal aufgeklärt, was er hatte, und er kannte diese Krankheit ja gar nicht."

Jetzt ist er wieder auf der Straße - und die Gefahr besteht, dass er andere ansteckt und nicht so ärztlich behandelt wird, dass er überleben kann.

Ratlosigkeit treibt Teltschik um. Und auch der Ärger darüber, dass der Staat selbst so wenig beiträgt, um die Epidemie einzudämmen. Ratlos ist auch Frieder Alberth, der sich für den Augsburger Verein "Connect" seit sieben Jahren in der Ukraine gegen Aids engagiert.

Vergangene Woche war er dort auf einer Konferenz - und man müsse sich das klarmachen, sagt er erregt: "Allein während der zwei Tage, die wir berieten, haben sich 125 Menschen infiziert, 25 sind gestorben." Bei etwa 25.000 liegt die Zahl derer, die mittlerweile an Aids oder an den Folgekrankheiten verstorben sind. Wenn er mit einem Schlag etwas ändern könnte, sagt Alberth, dann würde er "die Stigmatisierung beenden, der hier jeder Infizierte ausgesetzt ist.

In den Schulen müsste über Homosexualität und über Drogenkonsum geredet werden, anstatt darüber zu lachen. Die ganze Haltung müsste sich ändern." Aber bis das geschieht, wird sich die Epidemie weiter ausbreiten - nebenan, hinter der Ostgrenze der Europäischen Union.

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