Süddeutsche Zeitung

Ärzte warnen vor Elektroschockern:50.000 Volt aus der Pistole

Immer mehr Länder rüsten ihre Polizei mit Elektroschockwaffen aus. Mit ihnen lässt sich ein Gegenüber aus der Distanz kampfunfähig machen, ohne gleich sein Leben zu riskieren - heißt es. Doch es gibt Todesfälle.

Patrick Illinger

Der Mann war betrunken, kein Zweifel. Ansonsten lässt der medizinische Bericht aber nur ahnen, welche Renitenz der 27-Jährige an den Tag legte, als Polizeibeamte seine Personalien feststellen wollten. Die Gesetzeshüter der französischen Stadt Rouen sahen sich jedenfalls genötigt, den Mann mit einer Elektroschockwaffe niederzustrecken. Dabei verwendeten sie das modernste Modell eines sogenannten Tasers: die Elektroschockpistole X26 des amerikanischen Herstellers Taser International.

Diese Waffe verschießt mit Gasdruck zwei 13 Millimeter lange Pfeile, an denen je ein dünner, sechs Meter langer Draht befestigt ist. Nachdem die Pfeile in die Haut eines Menschen eingedrungen sind, schickt die Pistole 50.000 Volt starke Spannungsimpulse durch die Drähte.

Die jeweils fünf Sekunden dauernden Stromstöße verursachen starke, krampfartige Schmerzen, die auch einen kräftigen Mann zu Boden reißen.

In der Theorie und auch nach Ansicht vieler Polizeibehörden sind Taser ein praktisches Werkzeug für Ordnungshüter, ein Mittelding zwischen Schlagstock und Schusswaffe. Man kann ein Gegenüber kampfunfähig machen, ohne selbst Hand anzulegen und ohne gleich ein Menschenleben zu riskieren. Meistens jedenfalls.

Die Attacke in Nordfrankreich aber hatte ein Nachspiel. Der Mann durfte gehen, als seine Personalien festgestellt und die Drähte der Taserwaffe entfernt worden waren. Einige Stunden später meldete er sich mit starken Kopfschmerzen im örtlichen Krankenhaus.

Eine Computertomografie seines Kopfes zeigte Erstaunliches: Einer der beiden Taserpfeile steckte seitlich im Schädel des Patienten, und die Spitze des Geschosses ragte einige Millimeter weit in die Hirnmasse hinein. Nach Angaben der Ärzte hatte das Opfer Glück, dass sich keine bakterielle Entzündung im Schädel ausbreitete.

Der Fallbericht aus der Zeitschrift Forensic Science International facht nun eine seit Jahren schwelende Diskussion über die Gefährlichkeit von Elektroschockwaffen neu an.

Zudem ist in der vergangenen Woche im Fachorgan Circulation eine Studie erschienen, die zu dem Schluss kommt, dass der Taser X26 auch zum Herztod führen kann. Der Kardiologe Douglas Zipes vom Krannert Institute of Cardiology im US-Bundesstaat Indiana hat acht Tasereinsätze aus den Jahren 2006 bis 2009 eingehend analysiert, bei denen die Elektroschockpistole gegen "klinisch gesunde Männer" im Alter zwischen 16 und 48 Jahren eingesetzt worden war. Alle acht Männer hatten während oder nach dem Tasereinsatz das Bewusstsein verloren. Sieben von ihnen starben.

Bei allen Opfern steckten die Taserpfeile im Brustbereich. Nachdem Zipes die bei der Wiederbelebung aufgezeichneten Herzströme im Detail analysiert hat, kommt er zu dem Schluss: Die Elektroschocks eines Tasers können Herzflimmern und Herzstillstand verursachen. Die Länge der Taserschocks war dabei unterschiedlich. Ein 17-Jähriger fiel nach fünf Sekunden Hochspannung in tödliche Ohnmacht. Einem 33-Jährigen jagten die Ordnungshüter 62 Sekunden lang Ströme durch den Körper.

Der Hersteller der X26 hält Zipes Analysen für nicht schlüssig und verweist darauf, dass Taserwaffen weltweit bereits drei Millionen Mal zum Einsatz gekommen seien. Doch genau darin sehen Kritiker die Gefahr: Weil Nutzer sie für nicht tödlich halten, sinkt die Hemmschwelle beim Einsatz.

Ein 2008 von Amnesty International veröffentlichter Bericht lässt ahnen, dass manche Polizisten in den USA die Elektroschockwaffe anwenden wie einen Schlagstock oder ein Paar Handschellen. In Ohio wurde ein neunjähriger Junge mit Elektroschocks traktiert.

Besonders tragisch verlief ein Einsatz, nachdem ein Arzt am Steuer seines Autos einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Weil er den Anweisungen der Autobahnpolizei nicht Folge leistete (oder leisten konnte), wurde er am Fahrbahnrand des Highways getasert - und starb kurze Zeit später.

Das amerikanische Justiz-Institut NIJ, eine Beratungsbehörde des US-Justizministeriums, betont unterdessen die Vorteile der Taserwaffen, von denen bislang rund 260.000 Stück an die Sicherheitsbehörden der USA ausgegeben wurden. Sowohl Polizisten als auch Verdächtige seien deutlich seltener nach einem Einsatz verletzt, wenn Taser benutzt wurden, erklärt die Behörde in einem Untersuchungsbericht.

Die Gefahr, dass ein Elektroschocker zum Tode führt, liege "unter 0,25 Prozent". Diese Zahl findet sich prompt auch auf der europäischen Website des Herstellers Taser International.

In Deutschland sind indes noch wenige Polizisten mit Taserpistolen ausgestattet, die meisten sind SEK-Beamte, etwa in Berlin, Hamburg oder Sachsen-Anhalt. Die Bundespolizei verfügt noch nicht über Taserpistolen.

In der Schweiz wurden 2011 insgesamt 18 Verdächtige getasert. Offenbar herrscht in Europa noch Zurückhaltung mit einer Waffe, die wohl nicht ganz so nichttödlich ist, wie sie sein sollte.

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SZ vom 15.05.2012/mcs
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