Aerodynamik:Falken im Windkanal

Auf der Suche nach dem perfekten Flugzeugflügel wollen Luftfahrt-Ingenieure von Raubvögeln lernen. Hochgeschwindigkeitskameras helfen dabei.

Von Christian Endt

Wenn alles funktioniert, wird der Falke für einen kurzen Augenblick auf der Stelle fliegen. Mit Glück werden sich die Kraft seiner Flügel und der Gegenwind, den eine Turbine erzeugt, genau aufheben. Und zwar genau an der Stelle, die von den sieben grellen Scheinwerfern ausgeleuchtet wird, genau an dem Punkt, auf den die zehn Hochgeschwindigkeits-Kameras scharf gestellt haben. Dann können die Kameras den Flügelschlag am besten aufzeichnen. Dann gelingen die Bilder, die Martin Heinold braucht.

Heinold promoviert am Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik der Bundeswehr-Universität München. Der Campus erinnert mit dem hohen Zaun, den Soldaten im Wachhäuschen und den parallel stehenden Längsbauten eher an eine Kaserne als an eine Uni. Aber in einem Keller auf dem Gelände erforscht der Ingenieur Heinold, wie der Flug eines Falken genau funktioniert.

Der amerikanische Ornithologe Vance Tucker begann bereits in den 1960er-Jahren, Vögel durch einen Windkanal zu schicken. Seither versuchten sich mehrere Gruppen daran, der Physik des Vogelflugs auf diese Weise näherzukommen. Um Daten zu sammeln, hefteten Forscher den Tieren häufig irgendwelche Messgeräte an die Federn. "Wir wollten einen Versuchsaufbau, der möglichst wenig in das natürliche Verhalten des Vogels eingreift", sagt Heinold.

Moderne Kamera- und Softwaretechnik erlaubt es dem Luft- und Raumfahrttechniker, den Falken völlig frei durch einen Windkanal flattern zu lassen. Die Kameras machen derweil 1000 Bilder pro Sekunde. 80 Gigabyte Daten kommen so in dem nur wenige Sekunden dauernden Flug zusammen. Mit diesen Aufnahmen baut Heinold anschließend am Computer den kompletten Bewegungsablauf des Falken als virtuelles 3-D-Modell nach. "Alle weiteren Messungen etwa zu Umströmung, Auftrieb und Widerstand führen wir dann in der Computersimulation durch", erklärt er. So kann Heinold die Bewegung jedes Punkts auf dem Körper des Vogels nachverfolgen. In Zeitlupe sieht man, dass sich der Rumpf bei jedem Flügelschlag etwas nach oben bewegt und dann wieder absinkt. "Ein Punkt auf dem Rücken folgt ziemlich genau einer Sinuskurve", sagt Heinold.

Für seine Versuche arbeitet der Ingenieur mit zwei Falknern zusammen. Die Tiertrainer haben das Weibchen Sheila und das etwas kleinere Männchen Sokrates mit ins Labor gebracht. Es sind Sakerfalken, eine ziemlich große Art, die oft zur Jagd eingesetzt wird; in freier Natur leben sie in Steppenregionen in Osteuropa und Asien. Zuerst bereitet sich Sokrates auf seinen Flug vor. Sheila hat Pause, sie sitzt mit einer Lederhaube über dem Kopf regungslos auf dem Rand einer Kiste.

Falkner Helmut Achatz trägt Sokrates in den Windkanal. Er geht in die Hocke, der Vogel sitzt ruhig auf seiner linken Hand. Achatz trägt einen Klettergurt um die Hüfte, mit dem er sich nun an zwei Haken am Boden anseilt. Wenn gleich der Wind einsetzt, werden die Seile verhindern, dass er umgeweht wird.

Erst muss Sokrates losfliegen - dann dreht Heinold den Regler auf

Durch eine Glasscheibe schaut Martin Heinold zu. An einem Gerüst aus Alu-Streben sind dicke Kabelstränge mit schwarzem Klebeband befestigt. Sie verbinden Kameras, Computer und Scheinwerfer. Als Vogel und Kameratechnik startklar sind, fährt Heinold langsam die Turbine hoch. Im Windkanal setzt ein Brummen ein. Achatz zieht den Reißverschluss an seiner Outdoor-Jacke nach oben und setzt eine Brille auf. Das Brummen wird lauter. Herumliegende Federn des Falken treiben über den Boden in Richtung der ansaugenden Turbine. Sokrates wird unruhig, schlägt auf Achatz' Hand immer wieder mit den Flügeln.

Als der Wind eine Geschwindigkeit von 15 Metern pro Sekunde erreicht hat, geht es los. Achatz' Kollege Paul Klima hebt eine Stange ins Blickfeld des Falken. Daran hängt ein Faden, an dem eine tote Wachtel baumelt. Sokrates erkennt den Köder. Sofort startet der Greifvogel, schlägt gleichmäßig mit den Flügeln und fliegt zügig auf die Beute zu. Jetzt erhöht Heinold, der den Flug durch eine Glasscheibe beobachtet, an seinem Drehregler die Windgeschwindigkeit noch um drei Meter pro Sekunde.

"In unseren Testläufen haben wir festgestellt: Wenn wir gleich auf 18 Meter pro Sekunde hochfahren, haben die Falken keine Lust mehr zu starten und bleiben sitzen", sagt er. "Also warten wir, bis sie losgeflogen sind, und gehen dann auf die volle Geschwindigkeit." Nach wenigen Augenblicken hat Sokrates die Wachtel erreicht und knabbert daran. Vielleicht sieben oder acht solcher Flüge macht ein Falke pro Tag mit. Jedes Mal isst das Tier ein bisschen von der Wachtel, bevor die Falkner ihm den Köder wegnehmen. "Irgendwann ist er natürlich satt, dann lässt die Motivation zum Arbeiten nach", sagt Falkner Klima.

Drei Tage dauern die Messungen mit den Falken. An dem Projekt arbeitet Heinold aber schon seit drei Jahren. Er hat die Software entwickelt, die aus den Fotos das 3-D-Modell errechnet, auch die Hardware hat er selbst aufgebaut. "Eine Herausforderung war, dass die Kameras genau synchron zueinander auslösen", sagt er. "Nur dann lässt sich aus den Bildern später die genaue Position der Flügel berechnen." Inzwischen hat Heinold alle Kameras an einen Frequenzgenerator angeschlossen, der tausendmal pro Sekunde das Signal zum Auslösen gibt.

Eine Boeing mit schlagenden Flügeln wird es wohl kaum geben. Aber vielleicht eine Drohne?

Das Hauptziel des Falken-Projekts ist es, den sogenannten Schlagflug besser zu verstehen. Bei dieser Flugtechnik schlagen Sakerfalken etwa vier bis fünfmal pro Sekunde kräftig mit den Flügeln und erzeugen dadurch zugleich Auftrieb und Schub nach vorne. "Es wird nie eine Boeing mit schlagenden Flügeln geben", sagt Heinold. Trotzdem lasse sich aus dem Falkenflug vielleicht ableiten, wie das perfekte Profil eines Flugzeugflügels aussehen muss. Und für leichte Drohnen oder Forschungssonden in der Raumfahrt könnte der Schlagflug eine Antriebstechnik sein.

"Auf Fotos, die von Falken in der Natur gemacht wurden, lässt sich erkennen, dass der Vogel beim Flug manchmal einzelne Federn aufstellt", sagt Heinold. "Bisher haben wir nicht verstanden, wann genau und warum er das tut. Das ist eine der Fragen, die ich mit meinen Experimenten beantworten will." Vermutlich wollen die Vögel damit Rückströme an der Flügeloberfläche bremsen. "So ähnlich wie die Klappen, die an einem Flugzeug beim Landen ausgefahren werden."

Beim ersten Anlauf fliegt Sokrates ein bisschen zu weit rechts für die Kameras, aber schon beim zweiten Mal liefert der Falke perfekte Bilder. Heinold ist zufrieden. Dann bekommt auch Sokrates seine Haube auf und setzt sich neben Sheila, zum Ausruhen nach dem Flug.

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