Abtreibungen nach Geschlecht:Der mörderische Makel, ein Mädchen zu sein

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Nicht nur in China und Indien werden Mädchen seit Jahren gezielt abgetrieben. Die Praxis macht sich auch in Europa breit. Die moderne Pränatalsdiagnostik erfüllt den konservativen Wunsch nach einem Stammhalter - mit verheerenden Folgen.

Von Jeanne Rubner

Als Statistiker der Vereinten Nationen vor ein paar Jahren routinemäßig die Geburtenraten der Welt überprüften, fiel ihnen eine Merkwürdigkeit auf. In einigen Ländern des Balkans und des Kaukasus wurden auffällig viele Jungen und nur wenige Mädchen geboren. Die Zahlen ähnelten denen in Indien oder China, wo das Gleichgewicht der Geschlechter längst nicht mehr stimmt, weil weibliche Embryonen gezielt abgetrieben werden. Väter in diesen Ländern wollen oft unbedingt einen männlichen Stammhalter und tun alles dafür, keine Töchter aufziehen zu müssen.

So wie im bewegenden Fall der indischen Ärztin Meetu Khurana. Als sie mit Zwillingsmädchen schwanger war, wollte ihr Mann sie mit Gewalt zu einer Abtreibung zwingen. Sie hat ihn deswegen angezeigt - als erste Inderin, die einen solchen Schritt gewagt hat.

Inzwischen kann es offenbar auch in Europa und im benachbarten Kaukasus für ein Ungeborenes ein mörderischer Makel sein, wenn es weiblich ist. In Armenien und Aserbaidschan kommen auf 100 Mädchen derzeit etwa 115 Jungen zur Welt, in Albanien sind es nach den gerade erst veröffentlichten Geburtenstatistiken 112 Jungen - das sind in etwa indische Zustände.

Normal ist ein Geschlechterverhältnis bei der Geburt von 100 zu 105. Der natürliche Überschuss an Jungen wird durch die höhere Sterblichkeit von männlichen Babys und Kindern später wieder ausgeglichen. Doch wenn die Zahl der Jungen zu groß wird, gerät die Demografie aus dem Gleichgewicht. In Indien leben inzwischen sieben Millionen mehr Jungen als Mädchen.

Weltweit fehlen 160 Millionen Frauen

In ganz Asien, so bilanziert der Bevölkerungsexperte Christophe Guilmoto vom Institut für Entwicklung an der Universität Paris-Descartes, fehlen 117 Millionen Frauen. Sie sind einfach nicht geboren worden - oder man hat sie nach der Geburt tödlich vernachlässigt. Weltweit gibt es ein Defizit von 160 Millionen Mädchen und Frauen.

In Europa sind neben Albanien drei weitere Länder des Balkans in den Fokus der Demografen geraten: Montenegro, Mazedonien und Kosovo. Guilmoto zufolge steht Albanien mit 100 Mädchen zu 112 Jungen an der traurigen Spitze, Kosovo und Montenegro folgen mit 110 beziehungsweise 109 Jungen. In Mazedonien ist die landesweite Geburtenrate mit 100 zu 106 noch nahe an der natürlichen Zahl. Doch in etlichen Gemeinden liegt sie weitaus höher. Das seien die Orte mit hohem albanischen Bevölkerungsanteil, sagt Guilmoto.

"Der Wunsch von Eltern, unbedingt männliche Nachkommen zu haben, ist eine Besonderheit des albanischen Kulturkreises", so der Pariser Demograf. Dieser Wunsch sei aber nicht nur unter Muslimen verbreitet, sondern auch unter Orthodoxen und Katholiken in dem Land. So schmerzhaft die Erkenntnis sei, sagt Guilmoto, aber die Abtreibung von Mädchen sei dort ein kulturelles Phänomen, das seine Wurzel in einem archaischen Verständnis von Familie habe. Jungen behalten ihren Namen, Mädchen geben ihn dagegen bei der Heirat auf und verlassen ihre Familie. Traditionell sind es die Söhne, die sich um ihre alten Eltern kümmern.

Illegale Spätabtreibungen sind verbreitet

Während des Kommunismus war Abtreibung in Albanien verboten, vorgeburtliche Untersuchungen gab es in dem bettelarmen Land nicht. Nach dem Sturz des Regimes wurde die Abtreibung bis zur 12. Woche straffrei, und Eltern bekamen allmählich Zugang zu den Methoden der Pränataldiagnostik. Auf einer Ultraschallaufnahme lässt sich ab der 12. Woche das Geschlecht erkennen, allerdings ist das Ergebnis sehr unsicher. Gewissheit über das Geschlecht liefern im ersten Drittel der Schwangerschaft nur Fruchtwasseruntersuchung oder Chorionzottenbiopsie, bei der Zellen des Mutterkuchens entnommen werden.

"Alle Gynäkologen in Albanien wissen, dass Eltern das Geschlecht ihres Kindes kennen wollen ", sagt Guilmoto, das ist Routine. Ein Mädchen ist vor allem dann unerwünscht, wenn eine Familie bereits eine Tochter hat; auch auf dem Balkan wollen die Menschen weniger Kinder. Die Ärzte wissen, dass oft abgetrieben wird, wenn sie ein Mädchen feststellen, aber gesprochen wird darüber nicht. Um Mädchen zu verhindern, seien auch illegale Spätabtreibungen verbreitet, so Guilmoto.

Es ist paradox - aber der medizinische Fortschritt führt dazu, dass Eltern sich den traditionellen Wunsch nach Jungen erfüllen können und Mädchen diskriminiert werden. Auch in Asien war es die Pränataldiagnostik, die das Geschlechterverhältnis in eine Schieflage gebracht hat. Sie wurde sogar vom Westen forciert, wie die US-Autorin Mara Hvistendahl in ihrem soeben auf Deutsch erschienen Buch "Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen" (Deutscher Taschenbuch-Verlag) belegt. Aus Angst vor einer Bevölkerungsexplosion hätten vor allem die USA Abtreibung und Pränataldiagnostik in Asien forciert.

"Bei uns passiert das nicht"

Alarmierend nennt Christophe Guilmoto die Entwicklung auf dem Balkan. Dort sei man sich der kritischen Lage nicht bewusst: "Es ist ein Problem der Ignoranz und der Verneinung", sagt er. ,Bei uns passiert das nicht' - das habe er häufig gehört. Die Folgen des gestörten Gleichgewichts der Geschlechter sind jedoch dramatisch: Männer finden keine Frauen mehr; Gewalt, Prostitution und Menschenhandel wachsen, wie eine Studie des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) zusammenfasst. Anders als man vermuten könnte, werden die wenigen Frauen nicht auf Händen getragen; vielmehr nimmt die Gewalt gegen sie zu. Die Zahl der Zwangsehen im Kindesalter steigt, ebenso die Zahl der Suizide von Frauen, die sich unter Druck fühlen, einen Sohn zu gebären.

Gegen die gezielte Abtreibung können Verbote allein wenig ausrichten. So dürfen seit 1996 indische Pränatalmediziner das Geschlecht des Fötus nicht mehr verraten. Doch viele tun es, und nur wenige werden dafür bestraft. Das Gesetz, das es Frauen wie Meetu Khurata erlaubt, ihren Mann wegen versuchter Abtreibung anzuzeigen, hat sich als wenig wirkungsvoll erwiesen. Khurata kämpft noch immer.

"Die juristische Verfolgung von Familienmitgliedern hat nichts bewirkt", ist Anne van Lancker überzeugt. "Die Abtreibungen gehen weiter, sie werden dann eben woanders vorgenommen", sagt die belgische Politikerin und Soziologin, die beim UNFPA für den Balkan zuständig ist. Van Lancker wirbt für Aufklärung. Kampagnen sollten den Wert von Mädchen betonen, Gesetze müssen die Gleichberechtigung forcieren.

Die asiatische Kultur ist anders als die albanische. Die Vorliebe für Söhne in China rührt von einer konfuzianischen Tradition, aber aus den dortigen Erfahrungen lässt sich dennoch für den Balkan lernen. So hat der UNFPA in Indien Projekte in Dörfern gestartet, mit denen die Regeln für Erbschaften und Landbesitz zugunsten der Frauen verändert werden sollen.

Und in Südkorea ist es durch Medienkampagnen und Gesetze gegen Frauendiskriminierung gelungen, die Geburtenrate, die einmal auf 100 Mädchen zu 115 Jungen entgleist war, auf 100 zu 107 zu senken. Es gebe Anzeichen dafür, schreiben koreanische Bevölkerungsforscher in einem UN-Bericht, dass viele jüngere Frauen heute sogar lieber Mädchen bekommen als Jungen.

EU muss sich des Themas annehmen

Allmählich müsste sich auch die Europäische Union des Abtreibungsproblems auf dem Balkan annehmen. Albanien ist Beitrittskandidat, und im Oktober hat die Kommission empfohlen, Verhandlungen mit Tirana zu beginnen. Auch Mazedonien ist Beitrittskandidat, Montenegro verhandelt bereits. Dass in diesen Ländern Mädchen gezielt abgetrieben werden, hat bisher nur einmal den Europarat auf Drängen der Schweizer Abgeordneten Doris Stumpf beschäftigt. Der aber hat keinen Einfluss auf den Beitritt. Kommission und Parlament dagegen haben sich bislang nicht darum gekümmert, dass in ihrer Nachbarschaft Mädchen schon vor ihrer Geburt diskriminiert werden.

Das Absurde sei, sagt die grüne Europaabgeordnete Franziska Brantner, dass die EU Familienplanung in China kritisieren dürfe, weil China als Entwicklungsland gelte. Das sei bei den Balkanländern, mit denen die EU verhandelt, anders. Hier fällt Abtreibung in den Bereich der Gesundheitspolitik - und nicht der Menschenrechtspolitik. "Die EU kann politisch Druck machen, rechtlich hat sie gegen die Beitrittskandidaten mit zweifelhafter Abtreibungspolitik aber keine Handhabe", so Brantner.

Immerhin: Kurz vor Weihnachten lud das albanische Gesundheitsministerium zu einer Tagung nach Tirana. Christophe Guilmoto, der französische Bevölkerungsexperte, war auch dort. Die albanische Presse hat viel berichtet, sagt Guilmoto. Und das Ministerium hat am Ende eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Auch wenn nun die Diskriminierung erfolgreich bekämpft wird, ist allerdings sicher: Die Folgen werden noch Jahrzehnte zu spüren sein.

© SZ vom 02.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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