Süddeutsche Zeitung

Absolutes Gehör:Der falsche Ton

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Wer die Tonhöhe präzise bestimmen kann, ohne dafür einen Bezugston zu brauchen, hat ein absolutes Gehör. Doch das ist weniger absolut, als sein Name glauben lässt.

Martin Kotynek

Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, Farben zu bestimmen. Ohne lange überlegen zu müssen, erkennen sie Blut als rot und Gras als grün. Beim Hören ist das anders - hier können nur sehr wenige Menschen die Tonhöhe präzise bestimmen, ohne dafür einen Bezugston zu brauchen. Wer das kann, hat ein absolutes Gehör.

Doch dieses ist weniger absolut, als sein Name glauben lässt, berichten Humangenetiker, Epidemiologen und Psychiater der Universität von Kalifornien in San Francisco im Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences (online). Das absolute Gehör verstimmt sich nämlich mit zunehmendem Alter, die Töne erscheinen dann höher, als sie wirklich sind.

In einem Test spielten die Forscher 981 Probanden mit absolutem Gehör 36 Töne vor. Je älter die Teilnehmer waren, desto mehr Fehler machten sie. Sie schätzten die gehörten Töne häufig zu hoch ein - ein Fis klang wie ein G für sie, ein Es wie ein E.

Der Grund sei, dass die Basilarmembran im Ohr mit zunehmendem Alter elastischer werde, schreiben die Forscher. Diese Membran liegt zusammengerollt in der Hörschnecke. Darauf sitzen feine Haarzellen, die von Schwingungen des Schalls ausgelenkt werden.

Je weiter vorne die Härchen sitzen, desto höher der Ton, von dem sie erregt werden. Da mit zunehmendem Alter diese Membran elastischer werde, würde sich die ursprüngliche Position der Haarzellen relativ zum Eingang der Hörschnecke etwas verschieben, so die Forscher.

Dadurch lenkt ein Ton mit 440 Schwingungen pro Sekunde - also 440 Hertz - Härchen aus, die zuvor erst bei 460 Hertz erregt wurden. "Diese Härchen sind jedoch nach wie vor mit derselben Region im Gehirn verbunden, die für 460 Hertz steht", sagt der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich: "Dass die Haarzelle verrutscht ist, weiß das Gehirn nicht." Der Ton erscheint höher - für Jäncke eine "plausible Erklärung".

"Magnet für alle Musiker-Ohren"

Die Teilnehmer im Test hatten bei jenen Tönen, die am Klavier auf den schwarzen Tasten liegen, größere Schwierigkeiten als bei den Tönen auf den weißen Tasten. Am häufigsten irrten sie sich beim Gis. Nur in 52 Prozent der Fälle wurde es richtig erkannt, ansonsten mit dem höheren A verwechselt. Auch das Ais interpretierten die Teilnehmer häufig als A - der Ton war der einzige im Test, der tiefer eingeschätzt wurde.

Diese Tendenz zum A sei ein Effekt der "universellen Verwendung dieses Tones beim Stimmen", schreiben die Forscher. Alle Musiker in der westlichen Welt stimmen ihre Instrumente auf den Kammerton A. Dieser liegt laut Definition bei genau 440 Hertz.

Doch es gibt große Abweichungen. Der Frequenzbereich, der für ein A steht, ist in der Praxis sehr breit. Bei frühbarocken Querflöten etwa liegt das A bei nur 396 Hertz, die Berliner Philharmoniker stimmen ihr A hingegen auf 446 Hertz. "Menschen mit absolutem Gehör haben gelernt, dieses breite Spektrum als A zu akzeptieren", schreiben die Forscher.

Andernfalls würden Konzerte, bei denen die Instrumente nicht genau auf 440 Hertz gestimmt wurden, falsch klingen. "Das A ist ein Magnet für alle Musiker-Ohren, man kann ihm gar nicht ausweichen", sagt Lutz Jäncke. "Was ähnlich klingt, interpretiert das Gehirn zu diesem Angelpunkt hin." Da das Gis eine Frequenz von 415 Hertz hat, fällt es genau in den breiten Toleranzbereich für das A - und wird daher häufiger falsch interpretiert, so die Forscher.

Vorteile für Asiaten

Klären konnten die Autoren um Alexandra Athos und Jane Gitschier jedoch nicht, ob das absolute Gehör angeboren ist, oder ob auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. "Menschen aus Thailand, Kambodscha und China haben häufiger ein absolutes Gehör als Menschen aus anderen Kulturkreisen", sagt Eckart Altenmüller, Musikmediziner an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover.

Das würde für eine genetische Basis sprechen: "Wachsen Einwanderer asiatischer Herkunft in den USA auf, haben sie immer noch häufiger ein absolutes Gehör als Amerikaner", sagt Altenmüller. Doch für Gottfried Schlaug, Neurologe an der Harvard-Universität in Boston, ist die Entstehung des absoluten Gehörs noch lange nicht geklärt: "Die Frage ist, ob es eine genetische Ursache für das absolute Gehör selbst gibt.

Genauso gut könnte es nämlich auch ein Gen geben, das für etwas ganz anderes kodiert, das es wahrscheinlicher macht, ein absolutes Gehör in jungen Jahren zu entwickeln." Dieser andere Faktor könnte das sogenannte Planum Temporale sein, eine Struktur im Gehirn, die bei Menschen mit absolutem Gehör auf der linken Hirnhälfte deutlich vergrößert ist. "Diese Asymmetrie wird genetisch beeinflusst", sagt Schlaug.

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Quelle:
SZ vom 28.08.2007
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