Abgründe der menschlichen Psyche:Der Mörder in uns

Wie krank ist Anders Behring Breivik? Es wäre beruhigend, den norwegischen Attentäter als psychisch gestört abzustempeln, als brachialen pathologischen Ausnahmefall. Doch Ärzte, Kriminalisten und Soziologen sehen Abgründe in allen Menschen.

Werner Bartens, Patrick Illinger und Christian Weber

Krank, irr, durchgeknallt, eine Bestie oder schlicht ein Monster. Für die Beschreibung des Täters, der in Norwegen mutmaßlich 76 Menschen ermordet hat, gibt es viele Adjektive und Metaphern. Die Wortwahl ist verständlich und vor allen Dingen bequem. Krank und weg - als normal denkender Mensch will man intuitiv einen Abstand schaffen zwischen der eigenen Lebenswelt und dem Grauen von Oslo und Utøya.

Doch die vorschnelle Einordnung des Täters in psychopathologische Kategorien ist nicht nur wissenschaftlich unkorrekt, sie birgt auch Gefahren. Wäre Anders Behring Breivik tatsächlich ein kranker, etwa ein wahnhaft schizophrener, Mensch, so könnte ihm im moralischen wie juristischen Sinne die Schuldfähigkeit abgesprochen werden. Der Massenmörder von Norwegen hätte in diesem Fall seine Taten wohl begangen, aber dabei keine Schuld auf sich geladen. So einfach sollte man diesen Verbrecher nicht davonkommen lassen.

Wie krank also ist Breivik? Nach Meinung führender Gerichtspsychiater spricht der Tathergang nicht für einen pathologisch gestörten, im krankhaften Wahn handelnden Irren, sondern für einen Überzeugungstäter, der aus einer krausen, teils selbstgestrickten Ideologie möglichst viel Gewalt anwenden wollte.

"Das gezielte und kühl berechnende Tatvorgehen spricht klar für die zweite Variante", sagt Frank Urbaniok, Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes bei der Züricher Justiz. Der Grad der Gefährlichkeit eines Menschen lasse nicht unbedingt auf eine massive psychiatrische Störung schließen, sagt er, da gebe es keinen automatischen Zusammenhang.

"Im Fall Breivik sprechen die akribische Planung und die Kühle der Durchführung gegen eine schwere psychische Erkrankung", so der Psychiater. Den Bezug zur Realität habe der Täter offenbar nicht vollends verloren, in seinem Koordinatensystem sei "das Morden eine Nebenwirkung für das Erreichen eines größeren Ziels. Er betrachtet es als angemessene Antwort auf eine legitimierende Emotion, wissend, dass es nicht legal ist", sagt Urbaniok.

Emotionale Prothesen

50 bis 60 Spielarten von Gewaltdelikten sind in der forensischen Psychiatrie bekannt. Zur Besonderheit der Morde von Norwegen gehört, dass der Täter - anders als beispielsweise in den Schulmassakern von Littleton oder Winnenden - als Folge seines Feldzugs nicht den eigenen Tod suchte. Breivik ging es bewusst um die Veröffentlichung seines Tuns, was ihm methodisch ebenso gelungen ist wie die präzise Durchführung seines teuflischen Mordplans. So viel Kalkül und so viel Logistik erfordern jedoch einen hohen Realitätssinn. Genau das spricht gegen eine Krankheitsdiagnose.

Nahlah Saimeh, Ärztliche Direktorin des Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt und erfahren im Umgang mit Gewalttätern und Amokläufern, will sich nicht konkret äußern zu einem Täter, den sie nicht selbst begutachtet hat. Doch sei die Diagnose einer Psychopathie bei terroristischen Attentätern im Regelfall falsch. Häufig stehe ein massives narzisstisches Selbstwertproblem dahinter, "aber keine Persönlichkeitsstörung im krankheitswertigen Sinne".

Massenmörder und Amokläufer seien häufig von einer großen inneren Leere geprägt, sagt Saimeh. Auch fühlen sie sich in der Gesellschaft oder im Beruf nicht so platziert, wie sie es für angemessen halten. "Während es Amoktätern oft um Rache oder Kränkung geht, entwickeln politische Mörder häufig ein bizarres, pathologisches Gerechtigkeitsempfinden mit einem aggressiven Gewissen für richtig oder falsch", sagt die Psychiaterin, "das stütze das fragile Selbstwertgefühl wie eine Prothese."

Ein scharfes Kriterium für eine Krankheitsdiagnose sei die Frage, wie weit die sonstige Lebensführung beeinträchtigt wird. "Mohammed Atta zum Beispiel (ein Anführer der Attentate vom 11. September 2001) hatte so viele soziale Valenzen, dass er sicherlich nicht im medizinischen Sinne krank war", sagt Nahlah Saimeh. Auch sie betont, ein hoher Grad der Planung spreche für einen intakten Bezug zur Realität. "Solche Täter machen sich oft fast spießbürgerliche Gedanken, zum Beispiel, dass sie am Tag X ausgeschlafen sein sollten." Entscheidend sei eine Art Parallelrealität, in der Fehler nach außen projiziert werden: "Nicht ich bin das Übel, sondern ich beseitige das Übel."

Narzisstische Machtphantasien

Auch andere Experten halten sich mit Ferndiagnosen zurück. Doch könne ein "Ausagieren von narzisstischen Macht- und Größenphantasien" bei dem norwegischen Täter unterstellt werden, sagt Hans-Peter Hartmann, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Heppenheim.

Für ein starkes narzisstisches Moment spreche die gottesähnliche Macht, die sich Breivik selbst zusprach, indem er sich zum Herrn über Leben und Tod machte. "Eine grandiose Vorstellung von den eigenen Möglichkeiten ist für die meisten Formen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung typisch, seine Selbstinszenierung in verschiedenen Uniformen im Netz passt dazu."

Vor Gericht wollte Breivik öffentlich in Uniform auftreten. Publikum wie Verkleidung blieben ihm jedoch verwehrt. Uniformen zeichnen sich schon Sigmund Freud zufolge dadurch aus, dass alle auf sie blicken - und ähneln daher der Nacktheit. Andere Menschen, Verwandte und Freunde gar, dienen ausgeprägten Narzissten nur dazu, über sie zu verfügen. "Die dünnhäutigen Narzissten sehen Therapeuten öfter, die denken ständig, andere hätten etwas gegen sie", sagt Hartmann. "Die Dickhäutigen hingegen lassen sich nicht behandeln, ihnen fällt erst etwas auf, wenn sie im Job gekündigt werden oder die Frau sie verlässt."

Bei extremer Selbstbezogenheit kann eine Kränkung des Selbstwertgefühls zu einem "malignen Narzissmus" führen, wie der Psychoanalytiker Otto Kernberg diese Form der Persönlichkeitsausprägung genannt hat. Andere Menschen werden dann nicht mehr als humane Subjekte gesehen, sondern als dehumanisierte Objekte, die wahllos niedergeschossen werden können.

Breivik hat offenbar keine Rührung verspürt, sondern gelacht und sich von seinem Auftrag erfüllt gefühlt, während er die Jugendlichen umbrachte. Starke Emotionen wie Hass und Wut können ein labiles Selbstwertgefühl stabilisieren. Das selbstzufriedene Lächeln, das Breivik auf dem Weg zum Gericht zeigte und seine Überzeugung, nicht schuldig zu sein, sprächen ebenfalls dafür, dass er sich im Recht fühlte.

Unauffällig wie Oberlehrer Wagner

Es wäre zwar tröstlich, wenn zukünftige Massenmörder vor der Tat an typischen Eigenheiten erkannt werden könnten. Doch leider gibt es diese Hinweise höchstens sehr versteckt. "Solche Leute fallen nicht auf, weil sie Stimmen hören oder Halluzinationen haben, sie sind vielmehr von einer inneren Überzeugung bestimmt, die unverrückbar ist", sagt Hartmann.

Im Kollegen- oder Freundeskreis würden sie daher wohl ebenso wenig Aufmerksamkeit erregen wie der Oberlehrer Wagner, der 1913 in Degerloch seine Frau und vier Kinder erschoss, bevor er im Nachbarort mehrere Häuser anzündete und wahllos zwölf der vor den Flammen Flüchtenden erschoss.

"Es gibt niemanden, der in einen Menschen hineinschauen kann", sagt Josef Wilfling, mehr als 20 Jahre Leiter der Mordkommission bei der Münchner Polizei. "Der Mord ist ganz tief im Menschen drin. Jeder trägt das Böse in sich, es kommt nur darauf an, ob es ausbricht."

Der erfolgreiche Ermittler, der auch den Sedlmayr- und den Moshammer-Mord aufklärte, hat es bei "mindestens 90 Prozent der Mörder mit einem völlig normalen Leben" zu tun gehabt. In seinem Buch "Abgründe. Wenn aus Menschen Mörder werden" vergleicht er die Veranlagung zum Mord mit der Veranlagung für Krebs; jeder trage es in sich, aber Umwelteinflüsse und Prägungen entscheiden darüber, ob es zum Ausbruch kommt.

Das ist eine Einsicht, die der Öffentlichkeit schwerfällt. Die hat es lieber, dass ein Mörder "mad or bad" ist, verrückt oder böse eben; ein Irrer oder ein Verbrecher - jedenfalls vom Normalen extrem abweichend. Doch auch eine neue Generation von Sozialtheoretikern hat in den vergangenen Jahren auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht, der seit Jahrtausenden in jeder Gesellschaft zu finden ist: Dass Menschen sich untereinander Gewalt antun.

Der Sozialpsychologe Harald Welzer etwa schilderte in seinen Täteranalysen, wie ganz normale Familienväter im Reserve-Polizeibataillon 45 ungerührt 12.000 Juden abschlachteten. Immer wieder gibt es Massaker, bei denen nahezu alle dabei sind, so etwa am 16. April 1994 in Ruanda, als Angehörige der Volksgruppe der Hutu im Ort Nyarubuye nur mit Knüppeln und Macheten 20.000 Tutsi erschlugen, die sich in eine Kirche geflüchtet hatten.

Herr über Leben und Tod

Norwegen ein Ausnahmefall? Eine Tat, zu der nur ein Psychopath fähig sei? Das bezweifeln viele Wissenschaftler.

Eine "alberne Frage" sei es, schreibt Jan Philipp Reemtsma, Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, wieso "ganz normale" Menschen sich an Massakern beteiligen, Kinder töten, Menschen foltern. Seine Grundannahme lautet: "Menschen können das und tun es immer wieder." So wie sie Klavier spielten oder Bilder malten.

Es gebe daher auch keinen Erklärungsbedarf, wieso jemand, der am Tage foltert, das am Abend in der Familie nicht fortsetzt. Das sei ebensowenig plausibel "wie der Gedanke, dass ein Maler, der sein Atelier verlässt, zu Hause seine Kinder anmalt."

Schon die abendländische Literaturgeschichte beginne in der Ilias mit der Schilderung eines Gewaltexzesses, den Reemtsma autotelisch nennt, der sich also selbst genügt: "Es reicht Achill nicht, Hektor zu töten, er will dessen Körper zerstören." Noch die Hinrichtungsrituale der frühen Neuzeit seien eine Demonstration gewesen, "dass der Souverän das kann und darf: einen Körper zerstören und ausweiden".

Das eigentlich interessante Phänomen sei, wieso in der Moderne Gewalt im öffentlichen Raum zunehmend geächtet und eingeschränkt werde - die Gesellschaft bei diesem Vorhaben aber dann doch immer wieder scheitert, sei es in My Lai während des Vietnamkriegs oder im Gefängnis von Abu Ghraib.

Eine Macht, die sich gut anfühlt

"Wenn man Areale schafft, wo autotelische Gewalt ausgeübt werden kann, wird sie ausgeübt werden", versichert Reemtsma - nicht von jedem, aber von ausreichend vielen. Reemtsma sieht in solchen Taten kommunikative Akte - als "Demonstration totaler Macht".

Und es ist eine Macht, die sich für den Täter gut anfühlt. So beschreibt es zumindest der Göttinger Soziologe und Publizist Wolfgang Sofsky, der in verstörenden phänomenologischen Analysen die Lust an Terror und Amoklauf seziert, so etwa im Fall Winnenden: "Plötzlich ist der Täter Herr über Leben und Tod. Nichts steht ihm mehr im Wege. Was von außen wie blinde Vernichtungswut aussieht, ist in Wahrheit ein Zustand absoluter Geistesgegenwart. Der Mörder ist hellwach. Mit brüllender Begeisterung feuert er um sich. Der Amok ist ein ekstatischer Tanz der Vernichtung. Der Rausch der Bewegung entfesselt Energien, von denen der Täter nicht einmal ahnte, dass er sie hat."

Das ist natürlich nicht die Sprache der Wissenschaft; an der empirischen Evidenz der beschriebenen Gefühlslage mag so mancher Fachkollege zweifeln. Doch vieles spricht dafür, dass die Intuition Sofskys in die richtige Richtung geht.

Dazu muss man nur an den idyllischen Bodensee fahren, wo an der Universität Konstanz im Zentrum für Psychiatrie der renommierte Neuropsychologe Thomas Elbert forscht, ein freundlicher Mensch, der von seinem Schreibtisch aus auf satte Wiesen blickt, aber zugleich im psychophysiologischen Labor und den Genozidorten Ostafrikas und anderen Krisenregionen den Ursprüngen menschlicher Mordlust nachspürt. Zum Fall des Anders Behring Breivik sagt er: "Letztlich ist jeder Mann zu so etwas fähig; dazu muss man nicht besonders pathologisch sein."

Wobei der Forscher damit nicht meint, dass jeder Erwachsene, der eine gesunde Sozialisation hinter sich hat, einfach so zum Killer mutieren wird. Aber wenn schon in der Erziehung keine Hemmschwellen aufgebaut worden sind, vielleicht sogar Gewalt vorgelebt wurde; womöglich auch die Genkombination etwas unglücklich ist, dann sei die Ausgangslage fragil.

Schmerzen, Schweiß, Töten - eine Lust

Wenn dann ein Jugendlicher jahrelang am Computerbildschirm das Abknallen von Menschen übe, zugleich die potentiellen Opfer in endlosen Gedankenschleifen zu lebensunwerten Feinden degradiere, werde das Gehirn für das reale Massaker trainiert.

Irgendwann könne dann der uralte Jagdinstinkt wieder durchbrechen, den sich die männlichen Hominiden vor gut zwei Millionen Jahren im Erdzeitalter des Pliozän angeeignet hatten, als sie begannen zu töten, um Fleisch zu essen. "Damals müssen sich die Lust- und Gewaltzentren des Gehirns verbunden haben", sagt Elbert; denn nur wer die Entbehrungen der Jagd, die Schmerzen, den Schweiß und das Töten als lustvoll empfunden habe, hatte größere Beute und letztlich auch mehr Nachwuchs.

Besonders fatal sei gewesen, dass es den Hominiden dann gelungen sei, diesen lustvollen Jagdtrieb auch auf ihre Artgenossen zu richten, ohne dabei die Art auszurotten und sich somit aus der Evolutionsgeschichte zu entfernen. Anders als andere Raubtiere verfügt der Mensch dank seines Vorderhirns über eine stärkere Impulskontrolle, so dass er eine selektive Tötungshemmung aufbauen konnte. Die Folgen sehen wir bis heute: Menschen töten gelegentlich.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: