70 Jahre Perlon:Fallschirm und Damenstrumpf

Am 29. Januar 1938 stellte ein Chemiker der IG Farben erstmals Perlonstäbe her. Daraus entstand eine Kunstfaser, die untrennbar mit der deutschen Geschichte verwoben ist.

Alexander Stirn

Als Paul Schlack am Abend des 28. Januar 1938 die Tür seines Labors schließt, denkt er weder an Weltpolitik noch an Damenbeine.

Der Chemiker hat lediglich sein großes Ziel im Auge: Einen Kunststoff will er herstellen, der sich wie pflanzliche oder tierische Fasern verweben lässt.

Am nächsten Morgen hat Schlack nicht nur das geschafft. Nebenbei und über Nacht hat er auch ein Material entdeckt, das die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wie ein langer Faden begleiten wird. Paul Schlack hat Perlon erfunden.

Dabei sieht das, was der Chemiker am 29. Januar 1938 aus seinem Bombenofen in Berlin-Lichtenhagen zieht, so gar nicht nach feinem Garn aus. Zwei bis drei Zentimeter dick sind die rundlichen Stäbe. Aber sie sind elastisch, und selbst Schläge mit einem schweren Hammer lassen sie nicht bersten.

"Eigentlich erwarteten wir nur ein halbes Resultat, eine Ermutigung", wird sich Schlack viele Jahre später erinnern. "Doch das Unwahrscheinliche wurde Ereignis, dieser erste Versuch war ein voller Erfolg."

Schon lange hat Schlack, als wissenschaftlicher Leiter bei der I.G. Farben verantwortlich für die Herstellung von Kunstseide, heimlich und auf eigene Faust an der neuartigen Faser geforscht. Er ist in die USA gereist, wo der DuPont-Chemiker Wallace Hume Carothers kurze Zeit zuvor mit Nylon die erste vollsynthetische Faser entdeckt hatte und patentrechtlich schützen ließ.

Schlack, der Beamtensohn aus Stuttgart, weiß: Wenn er ein Konkurrenzprodukt erfinden will, das besser und einfacher zu produzieren ist als Nylon, muss er das US-Patent umgehen. Und so experimentiert er mit Substanzen, die die Amerikaner als "ungeeignet" verworfen haben.

Das Kunststück gelingt: Schlacks Faser, zunächst Perluran, später Perlon genannt, unterscheidet sich äußerlich kaum vom großen Vorbild Nylon. Ihre Herstellung ist jedoch völlig verschieden.

Schlacks Perlon entsteht aus Caprolactam, einem aus Steinkohleteer gewonnenen Ringmolekül. Bei 240 Grad Celsius bricht Wasser den Ring auf, es formen sich lange Ketten aus Hunderten Molekülen. Nylon-Fasern dagegen setzen sich abwechselnd aus den beiden Molekülen Hexamethylendiamin und Adipinsäure zusammen - wobei Wasser entsteht.

Perlon wird von Chemikern als Polyamid 6 bezeichnet, Nylon hört auf den Namen Polyamid 6.6. Beide lassen sich zu Fäden verspinnen, beide sind dehnbar, temperaturbeständig, leicht zu waschen und beinahe unverwüstlich.

200 Mark für ein paar Nylons

Also wie gemacht für Kriegseinsatz und Damenbeine. Schon wenige Monate nach Schlacks Entdeckung, die im Sommer 1938 das Reichspatent 748.253 erhält, produziert die Firma LBO im sächsischen Oberlungwitz den ersten Versuchsstrumpf aus Perlon. Er ist elastischer, billiger und reißt nicht so schnell wie die bis dahin angesagten Seidenstrümpfe.

Auch die Amerikaner zögern nicht lange und präsentieren - nachdem Nylon zunächst die Naturborsten in Zahnbürsten ersetzt hat - 1939 auf der New Yorker Weltausstellung den ersten Prototypen eines Nylon-Strumpfs. Als im Oktober desselben Jahres am DuPont-Stammsitz in Wilmington der Testverkauf beginnt, sind alle Hotelzimmer des Städtchens ausgebucht.

Nur wer eine Anschrift innerhalb der Stadtgrenzen vorweisen kann, darf bis zu drei Strümpfe kaufen. Innerhalb von drei Stunden sind die 4000 produzierten Paare vergriffen. Den 15. Mai 1940 erklärt das DuPont-Marketing schließlich zum "N-Day". Es ist der amerikaweite Verkaufsstart von Nylon-Strümpfen. Schon am ersten Tag bringen die Hersteller nach eigenen Angaben fünf Millionen Paare an die Frau.

Fallschirm und Damenstrumpf

In Europa stoßen sie allerdings an ihre Grenzen. Als die DuPont-Manager ausgerechnet der I.G. Farben eine Lizenz zur Nylon-Produktion verkaufen wollen, ernten sie nur ein müdes Lächeln. Man hat schließlich - Paul Schlack sei Dank - Perlon.

Symbol des Wirtschaftswunders

Nach kurzen Verhandlungen tauschen beide Firmen ihre Produktionsgeheimnisse aus, sie verständigen sich über Absatzmärkte und maximieren so den Gewinn. Das deutsch-amerikanische Kunstfaser-Kartell hat sich die Welt aufgeteilt. Dann kommt der Krieg.

Wenn noch Perlon-Strümpfe hergestellt werden, dann allenfalls als Weihnachtsgeschenke für die Frauen der I.G.-Farben-Manager. Die restlichen Kunstfasern des als "kriegswichtig" eingestuften Produkts werden für das Militär gebraucht.

Aus Perlon entstehen Hochdruckschläuche für Flugzeugreifen, Seile aller Art und Borsten für die Reinigung von Waffen. Weil aus Japan keine Seide mehr importiert werden kann, müssen auch Fallschirme komplett aus der Faser hergestellt werden. Paul Schlack erhält das Kriegsverdienstkreuz erster Klasse. Noch kurz vor der Kapitulation entstehen zwei neue Perlon-Fabriken.

Nach dem Krieg ist die deutsche Kunstfaserindustrie weitgehend ausgelöscht. Die wichtigen Produktionsstätten liegen in der Ostzone; viele Maschinen landen als Reparationsleistungen in der Sowjetunion - genauso wie der Großteil der bescheidenen Strumpfproduktion.

Die beiden Kunstfasern werden zum Spielball der Weltpolitik. Sachsens Wirtschaftsminister Fritz Selbmann verkündet 1947: "Die Frauen in den Westzonen werden so lange barfuß gehen, bis ihre Männer uns Edelstahl und Hüttenkoks liefern." Die Amerikaner packen im Gegenzug Nylon-Strümpfe in ihre Care-Pakete. Das Beinkleid aus Kunststoff entwickelt sich zur heimlichen Währung auf dem Schwarzmarkt. Ein Paar Nylons ist so viel wert wie 200 Reichsmark - der Monatslohn einer Stenotypistin.

Erst vier Jahre nach Kriegsende gelingt es Schlack, im ehemaligen I.G.-Farben-Werk Bobingen bei Augsburg die kommerzielle Produktion von Perlon wieder anlaufen zu lassen. Im zweiten Halbjahr 1949 produziert die Fabrik unter seiner Leitung bereits 15 Tonnen Perlonfasern.

Fallschirm und Damenstrumpf

Auch im Osten müffelt es

Der Stoff wird zum Symbol des Wirtschaftswunders: Dreißig Millionen Strümpfe werden 1951 in Westdeutschland verkauft, das Paar für zehn Mark. 1955 sind es 100 Millionen zum Preis von nur noch drei Mark. Kleider aus Kunststoff, egal ob Strümpfe, Hemden oder Blusen, verkörpern für die Bundesbürger Freiheit und Fortschritt - auch wenn man darin mitunter etwas müffelt.

Im Osten müffelt es nicht weniger, nur unter anderem Namen. Nachdem sich Westdeutschland 1952 das Warenzeichen "Perlon" schützen ließ, braucht die ostdeutsche Kunstfaser ein eigenes Etikett.

Die Wahl fällt, ein deutliches Bekenntnis zur DDR, auf "Dederon". Die Staatsführung feiert den "Faden vollendeter Verlässlichkeit" als Beleg für die Überlegenheit des Sozialismus - getreu der ausgegebenen Losung "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit". Millionen ostdeutscher Frauen tragen Dederon-Kittelschürzen, am liebsten geblümt. Und auch der Dederon-Einkaufsbeutel ist immer dabei.

Anders als Nylon-Entdecker Carothers, der von Depressionen und Alkoholproblemen geplagt 1937 eine tödliche Zyankali-Kapsel schluckt, kann Paul Schlack den Erfolg seiner Erfindung auskosten.

Als er 1987 in Leinfelden-Echterdingen stirbt, haben Nylon und Perlon ihre größte Zeit aber schon hinter sich. Der Markt für Feinstrumpfhosen schrumpft. Neue Kunstfasern, aus denen atmungsaktive und knitterfreie Textilien genäht werden, setzen sich gegen den Mief der Nylon- und Perlon-Ära durch.

Doch noch immer spinnt die chemische Industrie Jahr für Jahr weltweit etwa vier Millionen Tonnen der Kunstfaser - vor allem für Teppichböden. Dass Perlon - historisch gesehen - nur die Nummer zwei war, hat der Faser aus Deutschland dabei nicht geschadet: Verglichen mit Nylon, ist ihr Anteil auf dem Weltmarkt heutzutage fast doppelt so groß.

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