25 Jahre Super-GAU von Tschernobyl (11):Allein im nuklearen Vulkan

Am Morgen des 26. April 1986 bricht Mykola Isajew zur Arbeit auf - zu einer ganz normalen Schicht im Reaktor 4 von Tschernobyl, glaubt er. Dann erlebt er die Hölle. An den Folgen jenes Tages vor 25 Jahren leidet er bis heute.

Christopher Schrader

Der 26. April 1986 versprach ein schöner Samstag in Pripjat zu werden. Die Tage zuvor waren schon sehr warm gewesen, die Bäume hatten ihre Blätter wieder, Kinder rannten in kurzen Hosen hinter Fußbällen her. Alle freuten sich auf die Feiern zum 1. Mai.

Tschernobyl

Mykola Isajew mit dem Bild eines der "Todgeweihten" - jene Männer, die für Minuten auf den Dächern der Gebäude um den havarierten Reaktor arbeiten mussten. Sie trugen eine Kappe mit Bleiplatten und Glasvisier sowie einen mit Blei imprägniert Gummianzug.

(Foto: Christopher Schrader)

Im Zentrum der Stadt war ein Rummelplatz mit Riesenrad und Autoskooter aufgebaut. Mykola Isajew kam um sechs Uhr morgens zur Haltestelle des Werksbusses, der ihn zum Reaktor 4 des Kernkraftwerks in Tschernobyl bringen sollte. Dort standen schon Dosimetriespezialisten mit ihren Messgeräten und berichteten von einer erhöhten Strahlung. Isajew hielt das für einen Scherz, "ich dachte, sie machen sich über uns lustig", sagt er heute.

Doch als der Bus dann von der Brücke über die Gleise auf den Reaktor zurollte, standen da Polizisten mit Maschinenpistolen. Die Techniker im Bus konnten sehen, dass ihr Block 4 kein Dach mehr hatte. Auf dem Werksgelände lief ein General herum, der Isajew und seinen Männern den Zutritt verbieten wollte. Erst der Kontakt zur Obrigkeit, wie es der ehemalige Reaktoringenieur ausdrückt, machte ihnen den Weg frei.

Im Reaktorgebäude fehlten die Strahlenmessgeräte an ihrer Arbeitskleidung. Die Kassetten waren auf dem Boden verstreut, das erste Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Isajew sollte in der Frühschicht als verantwortlicher Operator die Bedienung des Reaktors übernehmen. Bei der Übergabe sagte sein Kollege aus der Nachtschicht, offenbar seien bei einer Dampfexplosion ein paar Dachplatten weggeflogen, aber sonst sei alles in Ordnung. Der Reaktor müsse gekühlt werden, sei aber intakt. Dann erbrach er sich.

"Hast Du etwas schlechtes gegessen?", fragte Isajew, doch der Mann verneinte. Er sei mit dem Maschinenmeister die ganze Zeit im Reaktor gewesen. Isajew nahm ein Buch über Strahlenschutz zur Hand; spontanes Erbrechen setze bei Dosen ab 100 Röntgen ein (einem Sievert, heute gebräuchlichen Einheiten). Die Einheit Sievert misst, wie viel Energie radioaktive Partikel im Körper hinterlassen, und welche biologische Wirkung das hat. Ein ganzes Sievert löst akute Strahlenkrankheit aus, mit Erbrechen, Fieber und Veränderungen im Blutbild. Das kann man überleben, aber das Risiko für langfristige Krankheiten steigt rapide. Tatsächlich sollte der Mann fünf Jahre später sterben.

Die Männer der Frühschicht um Isajew hatten nun genug erfahren. Ohne auf eine Anweisung von oben zu warten, machten sie eine Jodprophylaxe. Sie tropften ein Konzentrat in ein Glas Wasser und tranken es: Ihre Schilddrüse sollte sich an den harmlosen Jod übersättigen und in den kommenden Tage kein radioaktives Jod aufnehmen können.

Die Strahlenmessgeräte zeigten alle den maximalen Wert, die Radioaktivität musste weit über der Skala liegen. Dann kam immerhin der Befehl, dass Isajews Hilfsoperatoren in den Bunker gehen sollten. Er werkelte darum bis 18 Uhr weitgehend allein im Kontrollraum des Reaktors, erzählt er, umgeben von Alarmsignalen.

Die Spätschicht kam erst um 18 Uhr, mit zwei Stunden Verspätung. Den Männern war es nicht in den Sinn gekommen, ihre Familien anzurufen. "Am 26. April hat man uns mit aller Kraft überzeugt, dass der Reaktor in Ordnung ist. Und am 27. April war das Telefon abgestellt." Warum die Spezialisten für Kerntechnik zunächst glauben konnten, der Unfall sei nicht so schlimm, ist heute und aus westlicher Sicht unverständlich. Isajew hatte doch einst Kernphysik studiert, beschreibt sich aber selbst als "Ingenieur für Wärmeanlagen".

Man wollte es nicht wahrhaben

In der Sowjetunion wollten die Männer vielleicht nicht wahrhaben, was passiert war, sie trauten sich nicht, einen Unfall in vollem Umfang nach oben zu melden, und warteten darauf, dass von dort Anweisung und Einordnung käme.

Tschernobyl

Isajew mit seiner Tochter in Pripjat vor der Katastrophe. In der Stadt wohnten die Ingenieure des Kernkraftwerks.

Tatsächlich beharrte die Kraftwerksleitung bis zum Abend des Tages auch Moskau gegenüber darauf, dass der Reaktor intakt sei und nur gekühlt werden müsse. Immerhin wurde Isajew abends stutzig, als er Graphitstücke sah, die aus dem Reaktor geschleudert worden waren. "Sie hatten uns doch stets gesagt, der Block 4 sei intakt."

Als Isajew mit dem Werksbus in seine Heimatstadt Pripjat zurück kam, waren dort alle Straßen von Sprengwagen abgespritzt und alle Autos gewaschen worden. Kinder spielten in den Pfützen, Erwachsene saßen vor den Häusern und genossen den schönen Abend. Aber es fuhren auch gepanzerte Fahrzeuge durch die Stadt, Soldaten mit Strahlenschutz-Kleidung liefen herum, Hubschrauber knatterten durch die Luft.

Der Ingenieur kam nach Hause und erklärte seiner Frau Nadeshda, sie müsse mit den Kindern in das Zimmer der Wohnung gehen, das vom Reaktor abgewandt sei, alle Ritzen verstopfen, die Koffer packen und auf den Befehl zur Evakuierung warten. Seine Tochter Elena war damals gerade vier Jahre alt, sein Sohn Sergei vier Monate. Isajew stand in dieser Nacht am Fenster auf der anderen Seite der Wohnung und blickte über die Dächer der Wohnblocks auf das Kernkraftwerk. "Ich sah wie der Reaktor qualmte, ab und zu schlugen Flammen heraus. Ich hatte den Eindruck, ich blicke auf einen Vulkan."

Er wird wohl auch Abschied von Pripjat genommen haben. Es war eine sowjetische Modellstadt, der Ort für eine technische Elite. Hier wohnten die Ingenieure des Kernkraftwerks mit seinen vier Blöcken in Betrieb und zwei weiteren im Bau. Mykola Isajew war das Kind russischer Eltern, geboren in Ungarn. Darum benutzt er auch die russische Version seines Vornamens: Nikolaj. Er hatte studiert, wie alle in Pripjat. Die Leute verdienten gut, Isajew bekam 276 Rubel im Monat, etwa doppelt so viel wie in anderen Branchen. Er hatte auch doppelt so viel Urlaub und einen Schichtplan mit drei Tagen Dienst und zwei Tagen frei. Im Sommer konnte seine Familie in ein Sanatorium am Meer fahren. Der Ingenieur hatte acht Jahre zuvor, mit 23 Jahren, den verantwortungsvollen Posten des Chefoperators in Tschernobyl übernommen. Er hatte als junger Mann eine eigene Wohnung bekommen, worauf die Menschen in anderen Städten schon mal 25 Jahre warteten. Und die Häuser waren sehr gut und modern ausgestattet. Pripjat war ein begehrter Wohnort.

Aber so lang Isajew auch aus dem Fenster schaute und über sein verlorenes Leben nachsann, der Befehl zur Evakuierung kam nicht. So machte er sich am kommenden Morgen um sieben Uhr wieder auf den Weg zum Reaktor. Dort angekommen wurde er zwangsverpflichtet. Es sei ein militärischer Zustand, trotzdem mussten alle ein Dokument unterzeichnen, dass sie einverstanden seien. Es traf vor allem die Männer aus seiner Schicht 2, aber etliche Mitarbeiter anderer Schichten kamen aus eigenen Stücken, manche mit dem Fahrrad, weil die Werksbusse nicht mehr fuhren, andere entgegen der ausdrücklichen Anweisung der Militärpolizisten.

"So waren wir in der Sowjetunion erzogen worden: Das allgemeine Wohl war wichtiger als das eigene Wohl."

Denn inzwischen hatte in Pripjat doch die Evakuierung begonnen. Das Regime hatte 1900 Busse dort hin und in den Ort Tschernobyl zwölf Kilometer südlich der Kraftwerksanlage beordert; Filme aus jener Zeit zeigen lange Kolonnen der uniform senffarbenen Gefährte. Lautsprecherdurchsagen informierten die Bewohner Pripjats, die nur ein paar Koffer mitnehmen durften. Sie wurden in die Oblast Kiew, zwei Stunden weiter südlich verlegt. Isajew sah seine Familie erst im Juli wieder.

Er arbeitete währenddessen mit etwa 100 Mann daran, die anderen drei Reaktoren abzuschalten, einige wertvolle Anlagenteile und Ausrüstungsgegenstände vom Bereich des Blocks 4 wegzubringen, dort die Katastrophe irgendwie zu begrenzen. In der Luft versuchten Hubschrauber das Feuer im Reaktor zu löschen, warfen Blei und Borsäure, Sand und Lehm in den lodernden Schlund. Fotos aus den Helikoptern zeigen weiße Flecken, wo das Filmmaterial getroffen wurde, so stark war die Strahlung.

Die Messgeräte in der Anlage zeigten längst nicht die wahre Belastung: Sie waren nur bis 36 Millisievert pro Stunde (tausendstel Sievert) ausgelegt. Solche Werte herrschten nicht überall, aber jeder der Männer bekam sehr viel ab. Die übliche erlaubte Dosis für Reaktoringenieure betrug 50 Millisievert pro Jahr, im Fall einer Havarie waren einmalig 250 Millisievert erlaubt.

Isajew hatte das innerhalb der letzten fünf Apriltage zusammen. Einer dieser Tage, der 29. April, war sein 31. Geburtstag. Er wurde am 1. Mai untersucht, die Ärzte stellten eine erniedrigte Körpertemperatur von 35,5 Grad Celsius fest. "Erst im September hatte ich wieder normale Temperatur", erzählt er. Trotzdem musste er zurück: "Im Kernkraftwerk wusste niemand, wie er sich verhalten muss außer uns."

Der Einsatz der Todgeweihten

Mykola Isajew Tschernobyl

Mykola Isajew bei der Arbeit in Reaktorblock 4 - vor dem Super-GAU.

(Foto: Christopher Schrader)

Als das Feuer gelöscht war, begleiteten die Ingenieure des Kraftwerks die Todgeweihten auf das Dach. Isajew hat ein Foto eines dieser Männer bei sich: Er trägt eine Kappe mit Bleiplatten und ein Glasvisier, sein Gummianzug ist ebenfalls mit Blei imprägniert. Die Männer sollten die Dächer der umliegenden Gebäude von den massiv strahlenden Brauchstücken des Reaktorkerns befreien. Das war zuerst mit Robotern versucht worden, erzählt Isajew, aber die Elektronik der Geräte hielt der Radioaktivität nicht lange Stand. Manche blieben einfach stehen, andere stürzten über den Rand des Daches.

So wurden einige Tausend Freiwillige angeworben. "Sie bekamen 1000 Rubel und die Versprechen, dass sie nicht mehr zum Militär müssen und dass sich die Sowjetunion nach ihrem Tod um die Familie kümmert", sagt Isajew. "Die meisten waren nach zwei bis drei Jahren wirklich tot." Die Männer rannten in ihrer Montur hinaus auf die Dächer, warfen einige Schaufelladungen Trümmer in eine Richtung, wo sie weniger störten, und rannten zurück. Ein einziger Einsatz von 40 bis 60 Sekunden, dann sollten sie wieder in ihre Heimatorte fahren. Die Zusagen an ihre Familien sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unerfüllt geblieben.

Nachdem im Mai der Noteinsatz beendet worden war, kamen auch wieder mehr Angestellte in die Kraftwerke zurück. Es gab jetzt einen Pendeldienst, die Männer lebten außerhalb der Sperrzone. Über dem Reaktorblock 4 wurde der Sarkophag konstruiert; die Sowjetunion hatte schlicht sämtliche Betonmischer der weiteren Umgebung herbeikommandiert. Sie fuhren in langen Schlangen zum Kraftwerk, und die meisten der Fahrzeuge mussten nach einer Weile stehen gelassen werden, weil sie zu stark belastet waren: Radioaktivität kann Metalle aktivieren, die dann selber strahlen.

Einige hunderttausend Liquidatoren wurden verpflichtet. 600.000, 800.000, so genau weiß das keiner. Es waren junge Rekruten der roten Armee, die Hälfte aus der Ukraine, aber die andere auch aus den anderen Sowjetrepubliken. Wenn sie nicht am Sarkophag arbeiteten, dann schabten sie die oberste Schicht Erde ab, um den radioaktiven Fallout irgendwo zu entsorgen. Oder sie legten eine der 800 Gruben in der Sperrzone an, in denen radioaktiver Abfall vergraben wurde. Dafür bekamen sie einen Orden.

Auch Isajew trägt ihn am Revers seines Nadelstreifenanzugs. Stolz, wie er sagt. Der Orden zeigte eine rote Flamme auf hellblauem Grund, und aus dem Feuer fliegen radioaktive Partikel auf gestrichelten Bahnen. Alpha, Beta, Gamma steht in griechischen Buchstaben daran. Sie bezeichnen die drei Arten radioaktiver Zerfälle. In Tschernobyl sind heute vor allem die Gammas zu messen, die Cäsium- und Strontium-Isotope beim Zerfall aussenden.

Irgendwann im Jahr darauf, als die Aufräumarbeiten Fortschritte gemacht hatten, wurden die Reaktoren 1 bis 3 wieder hochgefahren. Sie lieferten noch einige Jahre Strom, der letzte Block wurde erst im Jahr 2000 endgültig stillgelegt. Mykola Isajew fand das ganz in Ordnung: Kernkraft sei doch nötig, um die Menschen mit Energie zu versorgen. So dachte er bis vor einigen Wochen, bis Fukushima. "Sie hatten uns gesagt, eine Havarie wie in Tschernobyl passiert einmal in einer Million Jahre. Und jetzt das."

Im zweiten Jahr nach der Katastrophe bekam Isajew eine neue Aufgabe: Er leitete nun die Forschungsabteilung am Block 4. Mit seinen Leuten sollte er möglichst feststellen, wo das nukleare Inventar in der inzwischen erstarrten Masse geblieben war. Dabei setzte er auch Scharfschützen ein. Ihre Kugeln zertrümmerten die glasartige Schicht, Isajew konnte darum schnell ein paar Proben einsammeln und ins Labor bringen. Aber diese Arbeite konnte er auch nur bis 1991 machen, dann wurde er wegen seiner gesundheitlichen Probleme entlassen. Da war er 36 Jahre alt.

Noch heute plagen ihn die Folgen der Hepatitis, die er damals wegen der Strahlung bekam. Die ganze Familie, erzählt er, hatte damals die Leberentzündung, noch immer machen ihnen die Gallen zu schaffen. Seine Tochter musste wegen einer Harnwegs-Geschichte in der Schweiz operiert werden.

Seit 1991 engagiert sich der ehemalige Kraftwerksingenieur politisch. Sein Thema ist die Behandlung der Liquidatoren. Sie bekommen nicht die zugesagte Hilfe und Kompensation. Viele von ihnen sind krank, etliche schon gestorben. Im Durchschnitt mit 52,5 Jahren, erzählt Isajew. Er wird jetzt 56 Jahre alt.

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