Süddeutsche Zeitung

25 Jahre Super-GAU von Tschernobyl (10):Leben in der Todeszone

Eine Region nach dem Super-GAU: Für die Besucher ist es ein kurzer Ausflug in eine bedrückende Welt. Doch manche Menschen ringen nahe am havarierten Reaktor um ein ganz normales Leben.

Christopher Schrader

Dieser Dachgarten muss einst ein mondäner Ort gewesen sein. Der Blick aus dem siebten Stock des Hotels fällt auf den Kern von Pripjat, auf das Kulturzentrum mit seinen einstmals hohen Fenstern, die kühn geschwungenen Arkaden, den Park.

Er schweift über die Häuser einer Modellstadt, in denen eine technische Elite wohnte. Sie erzeugte Energie für den Aufbau des Landes, sie war gut bezahlt, wurde gut behandelt. Man kann sich vorstellen, wie die Ingenieure und ihre Frauen im Abendlicht flanierten und sich zu ihrem Leben beglückwünschten.

Heute ist das Hotel ein Trümmerfeld: Steinplatten der Treppenstufen sind vom Betonsockel gebrochen, zwischen zwei Etagen liegt eine von den Elementen gegerbte Tür. Die Fenster sind zerstört, Glassplitter knirschen unter den Füßen. In den Zimmern liegen rostende Heizkörper. Oben auf der Terrasse wurzeln zwei Birken zwischen geborstenen Bodenfliesen. Die Äste der größeren stoßen an die Betondecke des Dachgartens.

Es war ein Tipp von Nikolaj Fomin, dem Fremdenführer. "Das da oben ist mein Lieblingsplatz in Pripjat", hat er gesagt. "Da sieht man die Ursache und die Wirkung."

Die Ursache, das ist der sogenannte Beton-Sarkophag, eine hektisch errichtete Schutzhülle über dem havarierten Reaktorblock 4 von Tschernobyl, zwei Kilometer entfernt im Südosten.

Er war am 26. April 1986 nach einem missglückten Sicherheitstest explodiert und hat sein radioaktives Inventar nicht nur über Pripjat und die Umgebung verstreut, sondern über halb Europa. Und die Wirkung, das ist die verlassene Stadt. Wegen der Strahlung mussten die 50.000 Einwohner am 27. April 1986 ihre Wohnungen für immer verlassen.

Auch Mykola Isajew hat hier gelebt. Der Reaktor war sein Arbeitsplatz, die Stadt sein Zuhause, erzählt er. Es war ein gutes Leben. Er verdiente das Doppelte eines normalen Lohns. Die Stadt war für sowjetische Verhältnisse luxuriös ausgestattet. Der heute 56-jährige Ingenieur war Chefoperator im Block 4 und trat am Morgen jenes 26.April 1986 seinen Dienst an.

In der Nacht hatte sein Kollege wie von der Obrigkeit befohlen den verhängnisvollen Sicherheitstest begonnen, der zur Katastrophe führte. Es ging um das Verhalten des Reaktors bei Stromausfall. Durch eine Verkettung von Design- und Bedienungsfehlern war dessen Leistung plötzlich auf das Hundertfache des Nennwerts geschossen. Der Druck entlud sich in gewaltigen Explosionen.

Erst Isajews Schicht erkannte das volle Ausmaß der Havarie. Und dann verging ein weiterer Tag, bis Pripjat evakuiert wurde: unter den 50.000 waren Isajews Frau Nadeshda, seine Tochter Elena und der Sohn Sergei. In der Nacht, als die Familie noch auf den Befehl zur Evakuierung wartete, hatte der Ingenieur am Fenster gestanden, und über die Dächer auf den brennenden Reaktor gesehen.

"Ich hatte den Eindruck, ich blicke auf einen Vulkan." Aber am nächsten Tag musste Isajew wieder zur Arbeit und wurde verpflichtet, mit wenigen Kollegen die Katastrophe einzudämmen.

Im Gegensatz zu Isajew haben seine Kinder Pripjat nie wieder besucht. Der Vater hat ihnen Fotoalben geschenkt. "Ihr seid von diesem Ort, ihr müsst euer Leben lang daran denken, was da passiert ist."

Die Alben zusammenzustellen, dürfte für den Ingenieur ein Abschied von dem Leben gewesen sein, das einst die Dachterrasse über Pripjat symbolisiert haben mag. Auch seine Arbeit hat er verloren: 1991 wegen Gesundheitsproblemen, ausgelöst durch die absorbierte Strahlung aus jenen ersten Tagen.

Für Nikolaj Fomin hingegen ist Tschernobyl der erste Job. Der 24-Jährige ist nach der Katastrophe im Süden des Landes zur Welt gekommen, hat dort internationalen Tourismus studiert. Für die Agentur Tschernobyl-Interinform leitet er Touren durch die Sperrzone. Solche Trips kann man als Tagesausflug von Kiew aus für 150 Euro buchen. Das Hauptquartier liegt im Städtchen Tschernobyl, zwölf Kilometer von den Reaktoren entfernt. Fomin arbeitet hier im Zwei-Wochen-Rhythmus. Nach 14 Tagen Dienst muss er 14 Tage nach Hause, damit die Strahlenbelastung im Rahmen bleibt.

Fomin hat auf seinen Touren ein gelbes, digitales Dosimeter in der Tasche; es zeigt am Hotel, kurz vor Ende der Tour zwei Mikrosievert an. Die Einheit Sievert misst die Wirkung radioaktiver Strahlung auf den Körper. Ein ganzes Sievert löst Strahlenkrankheit aus, Erbrechen, Fieber, Zerstörungen im Blut. Fomin hat zwei Millionstel davon aufgenommen, die Effekte wären nicht einmal statistisch nachweisbar.

"Das ist heute nicht viel", sagt er und verzichtet im Gegensatz zu seinen Gästen auf den Mundschutz. Er betritt aber auch keines der Gebäude, wo sich verstrahlter Staub sammelt. Die Teilnehmer der Tour nehmen darum etwas mehr Dosis auf - sie entspricht einem Röntgenbild oder einem kurzen Flug.

7000 Touristen waren 2010 in der Sperrzone, erzählt Fomin. Ähnlich viele Menschen arbeiten hier: Außer den Guides sind es Handwerker, Waldarbeiter, Polizisten, Soldaten und die Techniker im Kraftwerk, das noch jahrzehntelang Aufsicht braucht. Die Menschen folgen ebenfalls dem Zwei-Wochen-Rhythmus oder pendeln in die Sperrzone. Abends steigen sie am Kontrollposten auf Strahlenmessgeräte. Die Füße auf Gitter gestellt, ihre Hände seitlich an eine Säule gelegt, warten sie auf das grüne Licht. Es zeigt, dass zumindest ihre Extremitäten heute nicht kontaminiert wurden.

Es gibt aber auch Menschen, die wohnen in der Sperrzone. Hanna Sawarotnija aus dem Dorf Kupowate zum Beispiel wurde wie alle anderen in den Tagen nach dem 26. April 1986 evakuiert. Aber schon ein Jahr später zog die damals 54-Jährige zurück. "Das ist meine Heimat, die lässt sich nicht ersetzen", sagt sie.

Jetzt ist sie eine Babuschka wie im Klischee. Weißes, gemustertes Kopftuch, fliederfarbenes Wollkleid, schwarze Filzstiefel, im Unterkiefer rechts der einzige verbliebene Zahn: So empfängt die Frau ihre Gäste in der Hütte unter den niedrigen, geweißelten Deckenbalken. Ein Teppich, Kalender von 2006 und bunte Plastikfolien zieren die Wände, von der Decke baumelt eine nackte Glühbirne.

Die alte Frau lebt von Zwiebeln, Kartoffeln und roter Beete aus dem Garten, sie zapft Birken an und trinkt den Saft mit Wasser vermischt, und als Kompensation für das Empfangen der Besucher bekommt sie freitags Lebensmittel. Früher hatte sie eine Kuh. Die Milch, erzählt sie, wurde immer mal wieder auf erhöhte Strahlung vermessen, "aber die war immer in Ordnung".

"Das einzige Problem ist, dass ich alt bin", sagt sie. Und vielleicht, dass sie hier keine Kinder sieht. In ihrem Dorf leben 22 Menschen, vor allem Frauen, alle sind alt. "Ich fühle keine Strahlung. Ich weiß nicht, was das ist", sagt Sawarotnija noch. Und mal abgesehen davon, dass niemand Radioaktivität fühlen kann, bis es zu spät ist, hat die alte Frau recht: Ihr Dorf liegt im Südost-Quadranten der Sperrzone, wo die Erde wegen der Windverhältnisse bei der Reaktorkatastrophe nicht stark radioaktiv belastet ist.

"Die Werte liegen nur wenig über der Hintergrundstrahlung", sagt Heinz Smital von Greenpeace, der die Besuchergruppe begleitet. Überall dringt schließlich etwas Radioaktivität aus dem Boden. Er hat ein Messgerät bei sich und gibt bereitwillig Auskunft über die momentane Dosis. Im Dorf registriert das Gerät etwa 20 Zählimpulse pro Sekunde, 20 zerfallende Atome haben Partikel durch den Messkopf geschickt. Ähnliche Werte hatte es auf einem Parkplatz kurz hinter Kiew gezeigt.

Das Instrument tickt bei jedem registrierten Zerfall. Das Geräusch wird hektischer, als die Reaktoren in Sicht kommen. An einer Biegung des Kühlwasserkanals stoppt der Bus, vor den Besuchern erstreckt sich das Panorama der Anlage. Links liegt ein Riegel von Gebäuden mit den Reaktoren 1 bis 4.

Der Betonmantel über dem Unglücksblock 4 überdeckt auch seinen Nachbarn, der 1986 beschädigt, dann aber bis 2000 noch betrieben wurde. Rechts von diesem Ensemble in einigem Abstand wurden vor 25 Jahren die Blöcke 5 und 6 gebaut. Die Arbeiten wurden gestoppt, die Kräne stehen noch auf dem Reaktorgebäude, ein Kühlturm ist bis zur Taille fertiggestellt. Hier knattert Smitals Instrument mit 500 Impulsen pro Sekunde.

Der Wert steigt auf 4000 radioaktive Zerfälle pro Sekunde direkt am Unglücksreaktor. Dort rauscht es nur noch aus Smitals Gerät: Der Sarkophag liegt 250 Meter weit entfernt hinter einem stacheldrahtbewehrten Zaun. "Hier kommt die Strahlung direkt durch den Beton aus dem Reaktor", sagt Smital. Zum Beweis drückt er die Messsonde gegen das hier errichtete Denkmal für die Katastrophenhelfer. Der Stein schirmt die Strahlung ab, auf der abgewandten Seite misst Smital 400 Impulse pro Sekunde.

Hier am Reaktor, außerhalb des Zauns macht die Strahlung etwa ein Röntgenbild pro Stunde aus. Aber die Männer mit dem weißen und dem orangefarbenen Helm, die auf dem Reaktordach herumklettern, bekommen mit Sicherheit weitaus mehr ab. Auch die Leute, die ein Stück weiter rechts eine Betonpumpe bedienen, könnten an der Grenze der chronischen Belastung liegen. Ein Baustellenschild erklärt, dass hier Vorarbeiten für einen neuen Schutzschild über dem Reaktor laufen. Er soll 2015 fertig werden, bevor, wie befürchtet, der jetzige Sarkophag zusammenbricht und eine Wolke radioaktiven Staubs aufwirbelt.

In einigen hundert Metern Entfernung soll darum eine gewaltige Halle gebaut werden, 100 Meter hoch, 270 Meter breit, 150 Meter lang, 29000 Tonnen schwer. Es muss das größte mobile Bauwerk aller Zeiten werden, weil die Konstruktion direkt am und über dem Sarkophag mit inakzeptablen Strahlendosen verbunden wäre. Darum soll das Dach aus Stahl auf Schienen über den havarierten Reaktor fahren. Woher die Baukosten von weit mehr als einer Milliarde Euro kommen, ist keineswegs gesichert. Und viel mehr als das Aufstellen des Schildes ist auch noch nicht passiert.

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Quelle:
SZ vom 23.04.2011/mcs
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