20 Jahre Tschernobyl:Lebensraum Sperrzone

In der Vorstellung vieler Menschen ist das Gebiet um den explodierten Atom-Meiler von Tschernobyl eine strahlende Wüste, in der nichts lebt außer verkrüppelten Pflanzen und missgestalteten Tieren. Doch Flora und Fauna machen aus der Todeszone ein Gebiet des blühenden Lebens.

Markus C. Schulte v. Drach

In der Vorstellung vieler Menschen ist die Sperrzone um den Atom-Meiler von Tschernobyl eine 30-Kilometer-Todeszone: Eine strahlende Wüste mit verlassenen Städten und Dörfern, in der nichts lebt außer verkrüppelten Pflanzen und mutierten, missgestalteten Tieren - und einigen Arbeitern, die den Betrieb der noch laufenden Kraftwerk-Meiler überwachen.

Tschernobyl

Hier leben niemand mehr: Die Geisterstadt Pripyat, keine zwei Kilometer entfernt vom Kernkraftwerk Tschernobyl.

(Foto: Foto: AP)

Tatsächlich waren nach dem Gau nicht nur die Arbeiter des Kraftwerkes, die Liquidatoren und weite Teile der Bevölkerung der Ukraine, Weißrusslands, der russischen Förderation hoher Strahlung ausgesetzt. Und was die Menschen umgebracht oder krank gemacht hat, hat auch Teile der Umwelt zerstört.

Ein Wald stirbt

So wurde unmittelbar nach der Katastrophe der Kiefernwald im Umkreis von vier Quadratkilometern um den Reaktor braun und starb ab. Es entstand der tote "Rote Wald". In den Gebieten, in die der Wind besonders viel Strontium und Cäsium hingetragen hatte, gingen viele Tiere - wilde und Haustiere - ein oder wurden unfruchtbar.

Doch heute, zwanzig Jahre, nachdem die Menschen die Gegend verlassen haben - und mit ihnen Herbizide und Pestizide verschwunden sind - finden Biologen um Tschernobyl keine Zone des Todes, sondern eine Zone sprießenden Lebens.

Die Wildtierpopulationen in der Region, in der es seit 1986 keine Industrie und keinen Verkehr mehr gibt und in der Feuchtgebiete nicht mehr trockengelegt werden, wachsen:

Die Wildschwein-Bestände werden nur noch von der zunehmenden Zahl der Wölfe eingeschränkt, man findet wieder Luchse, Elche, Rotwild, Biber, Dachse, Otter - selbst Bärenspuren wurden angeblich entdeckt. Etwa 280 Vogelarten zählen die Biologen, darunter etliche bedrohte Arten. Und auch die Fischbestände florieren.

Keine Symptome strahlenbedingter Krankheiten

Selbst die Przewalski-Wildpferde, die einzige Art, die von Menschen nach dem Gau gezielt in die Zone verbracht wurde, um die Folgen der Radioaktivität zu studieren, zeigen trotz hohen Verseuchungsgrades keine Symptome strahlenbedingter Krankheiten.

Und im Sarkophag, der den Katastrophen-Reaktor umschließt, nisten Vögel. "Stare, Tauben Schwalben - ich habe Nester gesehen und Eier gefunden", berichtete der Ökologe Sergey Gaschak kürzlich der BBC.

Keinen einzigen Hinweis gibt es darauf, dass irgendeine Wildtierpopulation nach dem Gau zurückgegangen wäre, erklärte Michail Bondarkov vom International Radioecology Laboratory bei Tschernobyl dem Independent. Und keine einzige Pflanzenart ist verschwunden, berichtet das russische Institute of Agricultural Radiology and Agroecology in Obninsk.

Auf der anderen Seite haben die Populationen von Ratten, Hausmäusen, Spatzen und Tauben - Tiere, die eng mit dem Menschen zusammenleben - abgenommen.

Lebensraum Sperrzone

"Kein Umwelt-Desaster"

Tschernobyl

Strahlenmessung Anfang April in der weißrussischen Stadt Vorotets innerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone.

(Foto: Foto: AFP)

Für die Menschen war der Gau ein Desaster, erklärte Mary Mycio kürzlich im Bulletin der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA,. Aber: "Ich bin nicht sicher, dass man von einem Umwelt-Desaster sprechen kann", meint die Biologin, die kürzlich das Buch "Wormwood Forrest. Eine Naturgeschichte von Tschernobyl" veröffentlicht hat.

"Die Abwesenheit der Menschen und das Fehlen ihres störenden Einflusses hat der Natur einen Frieden beschert, der ihr erlaubt hat, zu gedeihen."

Auch Jim Smith vom Zentrum für Ökologie und Hydrologie in Großbritannien vermutet, dass der Gau für Flora und Fauna ein Vorteil gewesen ist.

In einer Einschätzung der Umweltschäden durch den Gau, die Smith hat zusammen mit dem Ökologen Nick Beresford verfasst hat, kommen die Ökologen zu dem Schluss, dass die Strahlung, die für Menschen als gefährlich gilt, nur wenig Auswirkungen auf wilde Tiere und Pflanzen hatte.

"Nach 20 Jahren", so Smith und Beresford, "gibt es einige Hinweise auf bleibende Strahlenschäden bei Organismen - aber diese scheinen relativ gering zu sein".

Dabei hat die Strahlung durchaus zu Mutationen bei den Tieren geführt. Bereits vor zehn Jahren hatte etwa Cham Dallas von der University of Georgia bei Karpfen und Mäusen Veränderungen in der Erbsubstanz festgestellt. Aber: "Wir haben keine missgebildeten Tiere gefunden." Dabei waren die Nager so verstrahlt, dass man sie "nicht anfassen möchte", erklärte Dallas damals.

Sein russischer Kollege Gaschak hat die Lebenserwartung der Mäuse im "Roten Wald" untersucht - mit überraschendem Ergebnis.

Auch die von ihm gefangenen Tiere trugen etliche Mutationen -ihre Lebenserwartung war jedoch genauso lang wie die ihrer Verwandten in nicht kontaminierten Gebieten, berichtete er der BBC. Weder Stoffwechsel noch Fortpflanzung waren beeinträchtigt.

Nager aus anderen Regionen aber hätten sich in Gehegen im "Roten Wald" deutlich weniger wohlgefühlt - ein Zeichen für Anpassung, vermutet der Wissenschaftler.

Gute Bedingungen für die Überlebenden

Eine mögliche Erklärung für die gesunden Populationen ist, dass die Tiere mit den schwersten Mutationen und Geburtsdeformationen nicht überlebten oder bald gefressen wurden - und die schädlichen Veränderungen im Erbgut deshalb nicht weitervererben konnten, vermuten die Wissenschaftler.

Und Tiere, die trotz Mutation überlebten - und noch immer überleben - haben in der Sperrzone bessere Bedingungen als in Gebieten, die von Menschen besiedelt werden.

Für Dallas zeigt das Phänomen, "wie überraschend widerstandsfähig die Natur ist".

Möglicherweise sind die Tiere in der freien Wildbahn aufgrund der Strahlung allerdings einem erhöhten Krebsrisiko ausgesetzt. Da diese Krankheit jedoch meist erst relativ spät ausbricht, findet man sie bei Wildtieren nicht sehr häufig. Die Tiere, so vermuten die Wissenschaftler Smith und Beresford, werden dafür einfach nicht alt genug.

Das Risiko für den Menschen besteht weiter

Auch wenn es Tieren und Pflanzen in der Sperrzone also gut zu gehen scheint - ein Indikator dafür, dass auch Menschen das Gebiet ohne Risiko wieder besiedeln könnten, ist das nicht. Und auch 20 Jahre nach dem Gau kann man nach Einschätzung der Fachleute nicht wirklich von Langzeit-Folgen sprechen.

Viele Wissenschaftler fordern deshalb, dass die ganze Zone in der Ukraine zu einem Naturschutzgebiet erklärt wird, wie es bereits in Weißrussland geschehen ist.

Denn wo in Westeuropa gibt es noch ein vergleichbares, sich selbst überlassenes Gebiet, in dem auf Jahrzehnte sowieso niemand wird leben wollen?

Der Präsident der Ukraine, Viktor Juschtschenko, hat mit diesem Gedanken bereits gespielt - allerdings sieht er das Gebiet zugleich als möglichen Lagerplatz für radioaktiven Müll. Für die Tiere würde das bedeuten, sie hätten weiterhin ein riesiges Gebiet für sich - und sie müssten auch in Zukunft mit Strahlung bzw. einem Strahlenrisiko leben. Aber das tun sie ja bislang offenbar recht gut.

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