Ukraine:Hightech-Mantel für den Reaktor von Tschernobyl

Der neue Sarkophag über dem Katastrophen-Reaktor ist schwer wie ein Flugzeugträger und voller Elektronik. Trotzdem hat er nur einen Zweck: Zeit zu gewinnen.

Von Marlene Weiß

Es ist eine der gewaltigsten und ambitioniertesten Maschinen, die je gebaut wurden: 36 000 Tonnen wiegt die neue Struktur, die sich über den havarierten Tschernobyl-Reaktor wölbt, so viel wie ein mittlerer Flugzeugträger oder 53 ICE-4-Züge mit je zwölf Wagen. Sie ist 108 Meter hoch und 162 Meter lang, die Kathedrale Notre-Dame de Paris würde locker hineinpassen. An diesem Dienstag wird in Tschernobyl der Abschluss der wichtigsten Arbeiten offiziell gefeiert.

Das "New Safe Confinement" (NSC) ist keine schlichte Betonhülle, sondern eher eine Art begehbarer Mega-Roboter, der auch noch stabil genug sein soll, um einem Tornado standzuhalten. Unter dem doppelwandigen Dach sind Längsschienen angebracht, an denen zwei 96 Meter lange Querbrücken fahren. An diesen wiederum sind drei Kranwagen montiert, jeder kann 50 Tonnen Gewicht tragen und sich bis auf fünf Zentimeter genau an jede Position bewegen. An einem davon hängt eine Werkzeug-Plattform, die wie ein Fahrstuhl auf und ab fährt. Sie soll einen Roboter-Arm haben und Geräte wie Betonbohrer, Betonzerkleinerer und einen Zehn-Tonnen-Staubsauger an ihren Einsatzort bewegen.

All das kann von außen, aus dem Kontrollgebäude, gesteuert werden. Zwar werden wohl weiterhin täglich Arbeiter das Innere der Hülle und auch die noch einigermaßen sicheren Teile des alten Sarkophags betreten müssen, aber so viel wie möglich soll künftig per Fernsteuerung erledigt werden, um die Strahlenbelastung der Angestellten im Rahmen zu halten.

Die Arbeit im Innern bleibt jedoch nötig, denn das NSC ist trotz immensen Aufwands keine Lösung für die Ewigkeit. Unter dem schützenden Dach soll der einsturzgefährdete Sarkophag abgetragen werden, der nach der Katastrophe vom 26. April 1986 über dem zerstörten Reaktor 4 errichtet wurde. Vorerst wird radioaktiver Schutt auch innerhalb der neuen Hülle lagern können. Doch langfristig muss alles in Zwischen- und Endlager transportiert werden - von denen man heute teils nicht einmal weiß, wo sie stehen sollen.

Auf 100 Jahre ist das NSC ausgelegt, in dieser Zeit muss eine Lösung gefunden werden. "Sinn und Zweck des NSC ist es, diesen Zeitraum von 100 Jahren zu schaffen", sagt Balthasar Lindauer, Vize-Direktor der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die der größte Geldgeber für das Projekt ist und es verwaltet hat. 2,15 Milliarden Euro soll die ganze Absicherung von Tschernobyl kosten, 1,5 Milliarden davon entfallen auf das NSC. Das Geld haben neben der EBRD 42 Staaten und die EU-Kommission aufgebracht.

Um die Arbeiter nicht schon während der Bauzeit starker radioaktiver Strahlung auszusetzen, wurde die Hülle etwas entfernt vom alten Sarkophag errichtet. Das bedeutete jedoch, dass das fertiggestellte Gewölbe anschließend verschoben werden musste, angesichts des riesigen Gewichts eine erhebliche technische Leistung. Kräne kommen für eine solche Aufgabe nicht infrage, nicht einmal Rollen hätten funktioniert. Unter dem enormen Gewicht würde jedes Rad die Bewegung verweigern.

Darum stellte man das neue Dach auf Teflon-Schienen und zerrte es Zentimeter für Zentimeter an seine endgültige Position. An den Fußenden der tragenden Bögen wurden je vier hydraulische Schiebe- und Zieh-Geräte platziert, welche die Halle schubweise vorwärts wuchteten, insgesamt auf beiden Seiten zusammen 112 Stück. Diese Stop-and-go-Fahrt begann schon vor zwei Wochen und dauerte etwa 40 Stunden, verteilt über mehrere Tage.

Nun steht die hochgerüstete Halle an ihrem Bestimmungsort und ist weitgehend einsatzbereit. Nur kleinere Arbeiten fehlen noch: Einige Installationen im Kontrollgebäude etwa, außerdem diverse Abnahmetests und Kontrollen. Auch die luftdichte Versiegelung mit Spezial-Membranen an den Rändern muss noch abgeschlossen werden. Ganz dicht ist so eine große Fläche jedoch nicht zu bekommen, darum ist einer der wichtigsten Bestandteile der Anlage das Lüftungssystem. Es erzeugt zwischen den beiden Außenwänden des NSC stets einen Überdruck, sodass kein kontaminiertes Material nach außen gelangen kann, selbst wenn unter dem neuen Dach der alte Sarkophag komplett einstürzen sollte. Außerdem senkt es die Luftfeuchtigkeit so weit herab, dass das stählerne Tragwerk nicht rosten kann. Im Herbst 2017 soll die neue Hülle den ukrainischen Behörden übergeben werden.

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