Tierversuche:Schweine wie wir

Die Borstentiere sind dem Menschen so ähnlich, dass Wissenschaftler sie in vielen Versuchen den üblichen Mäusen und Ratten vorziehen.

Christian Weber

Ein Schwein nur, aber was für eins: "Insulin", sagt die Tiermedizinerin Simone Renner stolz, "ganz normales Humaninsulin". Dann greift sie zur Spritze und verpasst Schwein 9747, genannt "Ede", eine Ladung des Medikaments hinter die Ohren.

Ede grunzt und schmatzt mit großer Fröhlichkeit, während Doktorandin Christiane Fehlings ihm Apfelstücke ins Maul schiebt. Sie sagt: "Na, Dicker."

Von außen sieht das einsam im Norden von München gelegene Moorversuchsgut Badersfeld etwas abgeblättert aus. Kein Eingangsschild weist darauf hin, dass hier das international anerkannte Forschungszentrum für molekulare Tierzucht der Universität München residiert, hinter dessen Mauern Wissenschaftler mit modernsten Mikroskopen und Analysegeräten an den Rindern und Schweinen der Zukunft arbeiten. Stallbesucher müssen hier weiße Ganzkörperanzüge tragen wie die Ingenieure in den Reinräumen der Mikroelektronik.

Hier wurde 1998 Uschi geboren, die erste Klonkuh der Welt. Hier wachsen Schweineherzen, die Chirurgen vielleicht eines Tages kranken Menschen einpflanzen werden. Auch Ede ist kein normales Tier, sondern ein Schwein der Wissenschaft: eines der ersten transgenen Schweine, das mit einer künstlichen Genmutation zum Diabetiker gemacht wurde.

Ede leidet unter einem chronisch erhöhten Blutzuckerspiegel, weil seine Bauchspeicheldrüse nicht ausreichend Insulin ausschüttet, das überschüssigen Zucker abbauen hilft. Mit ihm haben Diabetologen ein lebendes Modell, das näher am Menschen ist als die Standard-Versuchstiere, die Mäuse und Ratten. Es belegt, wie wichtig die rosigen Tiere für die Biomedizin sein können.

Eine uralte Idee

Dabei ist es eine uralte Idee, die menschliche Physiologie am Vorbild der Schweine zu erforschen. Schon in der Antike sezierte der legendäre Arzt Galen von Pergamon (129-199 n.Chr.) unter anderem Schweine, um seine Anatomiebücher zu erstellen.

Als Allesfresser verfügen Schweine über einen vergleichbaren Verdauungstrakt wie Menschen, ihr Herz-Kreislauf-System ist in ähnlicher Weise anfällig für arteriosklerotische Erkrankungen. Die meisten ihrer Organe gleichen in Form und Größe ihren humanen Gegenstücken. Kein anderes Tier hat eine so rosige Haut.

Hinzu kommen praktische Vorteile: Schweine sind schnell geschlechtsreif, haben große Würfe und sind bei guter Behandlung angenehm im Umgang.

"Sie können ein Schwein dressieren wie einen Hund", sagt Tiermediziner Eckard Wolf, der im Gut Badersfeld forscht. Fast wundert man sich, dass im Jahre 2008 in Deutschland nur 13000 der Borstentiere in Tierversuchen eingesetzt wurden, dagegen knapp 1,8 Millionen Mäuse und fast eine halbe Million Ratten.

Versuchsschweine in Uniformen

Vielleicht liegt die Zurückhaltung der Forscher auch an Erfahrungen, wie sie ein Team von Notfallmedizinern vor kurzem im österreichischen Ötztal machte: Die Forscher wollten 29 narkotisierte Schweine im Schnee eingraben und beobachten, wie sie ersticken oder erfrieren.

So wollten die Forscher klären, weshalb etwa 20 Prozent aller Lawinen-Verschütteten ein bis zwei Stunden überleben. Die Studie hätte neue Kriterien liefern können, wann ein Lawinenopfer für tot zu erklären ist.

Doch dann brach ein Aufruhr in Medien und Öffentlichkeit aus, dass die Forscher die Experimente abbrachen. Deutsche Tierrechtler nahmen die Versuche mit zum Anlass, das Schwein zum "Versuchstier des Jahres 2010" zu erklären.Die Aufregung erscheint allerdings etwas übertrieben, wenn man bedenkt, dass die Zahl aller 2008 in Deutschland für Tierversuche verwendeten Schweine gerade mal 0,02 Prozent der 55 Millionen Artgenossen ausmachte, die im gleichen Zeitraum in Kochtöpfen und Bratpfannen landeten.

Widersprüchlich verhielten sich die Menschen bereits zu Zeiten, als die Skrupel, Schweine für belastende Experimente einzusetzen, noch weniger ausgeprägt waren als heute.

Das musste zum Beispiel ein geflecktes Ferkel mit dem Namen "Pig 311" erfahren, das gemeinsam mit 146 Artgenossen, 109 Mäusen, 176 Ziegen und 3030 Ratten ausgewählt worden war, am 1. Juli 1946 im Bikini-Atoll die Wirkung der Atombombe "Able" zu erkunden. Es wurde auf einer Offizierstoilette des Kreuzers Sakawa eingesperrt. Die Hitze der nuklearen Detonation setzte das Schiff in Brand; es versank mitsamt seinen Insassen - bis auf ein kleines Schwein, das nach dem Test im Meer schwamm.

Über das unzerstörbare "indestructible Pig 311" freute sich damals die Washington Post mit einem launigen Text. Die Matrosen des Laborschiffes USS Burleston beförderten das Tier zu ihrem Maskottchen. "Pig 311" landete schließlich im National Zoo in Washington, wo es zum Eber heranwuchs und vergebens versuchte, sich fortzupflanzen.

In den USA waren von da an Schweine an den meisten Nukleartests beteiligt. Dabei bemühten sich die Forscher manchmal um bizarre Realitätsnähe: Als man 1953 in der Atombomben-Testserie "Operation Upshot-Knothole" Brandwunden untersuchen wollte, wurden die Versuchsschweine in Uniformen gesteckt, wobei man einigen von ihnen Offiziersabzeichen aufnähte. Das hässlichste Schwein erhielt den Rang eines Zwei-Sterne-Generals und wurde am nächsten zum Explosionsort positioniert.

Tests mit Bomben, Schuss- und Stechwaffen

Bis heute kommen Militärmediziner und alle Forscher, die sich mit der Wirkung von Bomben, Schuss- und Stechwaffen beschäftigen, ohne Schweine nicht aus. Dennoch erregte es die Öffentlichkeit sehr, als vor kurzem bekannt wurde, dass britische Forscher vor acht Jahren 18 Schweine in Brandschutzdecken gehüllt und dann in die Luft gesprengt hatten.

Ein Blick in die Fachliteratur hätte genügt, um festzustellen, dass derartige Experimente verbreitet sind: Ende 2008 etwa setzten US-Militärforscher betäubte Schweine in Humvee-Geländewagen und simulierten in einer langen Testreihe die Wirkung von Straßenbomben auf Schweinegehirne.Die Forscher versicherten, es ginge ihnen nur um besseren Schutz für Soldaten, nicht um Waffenentwicklung.

Anders war das bei Wissenschaftlern der Universität Tromsö, die vor einigen Jahren Explosiv-Harpunen für den Walfang optimieren wollten. Nachdem sie betäubte Schweine im Wassertank mit Penthrit-Sprengladungen hochgejagt hatten, formulierten sie im Fachblatt Acta Veterinaria Scandinavia ihre Erkenntnisse: Der Schockeffekt der Granaten genüge leider nicht, um die Tiere sofort zu töten. Sie empfahlen Splittergranaten.

Selbst wenn es um bloße Biomechanik geht, um Stiche und Schusskanäle, kommt das Testmaterial meist immer noch aus der Fleischproduktion - obwohl nach Alternativen gesucht wird. Gesichtschirurgen in Chongqing etwa besorgten sich vor kurzem sieben Schweineköpfe aus dem Schlachthof, beschossen deren Unterkiefer mit 7,62-Millimeter-Vollmantelgeschossen und verglichen das Ergebnis mit einer Computersimulation.

Es überzeugte noch nicht ganz: Die Schusswunden im echten Knochen waren größer als im Modell.

Die Zeit der Crashtest-Schweine ist vorbei

Umstritten ist auch, ob Seife oder Gelatine, in die künstliche Knochen eingegossen werden, reale Körperteile ersetzen können. Ein Münsteraner Rechtsmediziner kam nach 47 vergleichenden Schüssen auf solche Ersatzmaterialien und auf Schweineleichen zu dem Befund, dass die künstlichen Materialien sich zumindest nicht zur Analyse von Gewalttaten eignen, die mit Pfeil und Bogen begangen wurden.

Auch die Kadaverforschung wäre ohne Schweine aufgeschmissen. Im renommierten Fachorgan Forensic Science International finden sich regelmäßig Studien, die mit Schweinen die Verwesung menschlicher Leichen simulieren: Da berichten etwa kolumbianische Entomologen, wie sie vier Zwölf-Kilogramm-Ferkel erst erschossen und dann akribisch dokumentiert haben, welche 5981 Insektenarten in den folgenden Monaten die Tiere skelettierten.

Kanadische Anthropologen beobachteten, wie Schweinekadaver von Hunden und Vögeln zerfleddert wurden. Im Meer vor Vancouver verfolgten Forscher mit Unterwasserkameras die Zersetzung von Schweine-Wasserleichen. Belgische Forscher fingen die Gerüche verwesender Tiere auf und analysierten sie mit Gaschromatografen.

Tierschützer mögen es als Fortschritt ansehen, dass seit Mitte der 1990er Jahre Schweine wenigstens nicht mehr im Auto verunglücken. Lange hatten Schweine die zuvor üblichen menschlichen Leichen in Crashtests der Sicherheitsforscher ersetzt.

Der Autoindustrie zufolge haben die Tiere Millionen Menschen das Leben gerettet, weil mit ihrer Hilfe Sicherheitsstandards entwickelt wurden wie Lenksäulen, die den Fahrer beim Aufprall nicht umbringen. Mittlerweile sind jedoch elektronisch aufgerüstete Puppen, sogenannte Dummies, im Einsatz.

Suche nach unerwarteten Effekten

Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass solche Ersatzmethoden sämtliche Schweineversuche ablösen werden. Zwar gibt es Ansätze, lebende Tiere durch Teilsysteme zu ersetzen: Physiologen züchten Dünndarmgewebe aus Schweine-Zellkulturen, an dem sie Verdauungsprozesse untersuchen. Pharmazeuten versuchen in ähnlicher Weise, künstliche Haut zu gewinnen. Andere Mediziner erforschen die Wundheilung am isolierten Schweineohr.

Doch beim Prüfen etwa neuer Medikamente gehe es ja gerade darum, dass unerwartete Effekte gefunden werden, wenn die Substanzen beim Durchgang durch die Organe verändert werden, gibt Tierärztin Heidemarie Ratsch zu bedenken, die am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales für die Genehmigung der Tierversuche zuständig ist."Deshalb kann man eben nicht auf Schweine oder andere komplette Organismen verzichten."

Zudem forderten die internationalen Richtlinien bei der toxikologischen Prüfung von Stoffen neben Nagetieren eine zweite Tierart. Traditionell nimmt man dafür Hunde, deren Einsatz aber besonders viel Protest provoziert. Schweine könnten sie in vielen Fällen ersetzen: Sie haben den Vorteil, dass sie eine weniger mächtige Lobby haben als die klassischen Begleittiere des Menschen.

Vor allem in der Industrieforschung etablieren sich seit Anfang der 1990er- Jahre die sogenannten "Göttinger Minipigs". Bei ihnen handelt es sich um eigens für Versuche gezüchtete, genetisch standardisierte Tiere, die noch näher am Menschen sind:

Während die traditionellen Schweinerassen leicht weit über 300 Kilogramm Gewicht erreichen, wiegt das ausgewachsene Minipig nicht mehr als 40 Kilogramm. Es hat eine unpigmentierte, glatte Haut, zudem ist es ruhig und freundlich. Die Herz-Kreislauf-Forschung etwa liefert nur bei stressfreien Tieren brauchbare Ergebnisse.

Das ist wichtig, denn für die Erforschung von Gefäßerkrankungen werden derzeit wahrscheinlich die meisten Schweineversuche in der therapeutischen Forschung gemacht. Wann immer ein Herzmedikament auf den Markt kommt, neue Schrittmacher oder Therapien gegen Blutverlust getestet werden, kann man vermuten, dass Schweine mit dabei waren. Auch Chirurgen haben ihr Handwerk meist unter anderem am Schwein trainiert, bevor sie Menschen operieren.

Die experimentelle Chirurgie benötigt Großtiere

Gerade die experimentelle Chirurgie benötigt die Großtiere. So kommt es, dass das Annähen abgetrennter Gliedmaßen heute zum Standardrepertoire der Chirurgie zählt.

Dahinter stehen Experimente wie jenes, das ein Team der Universität Bern vor kurzem im Journal of Surgical Research publiziert hat: Die Forscher betäubten acht Schweine, amputierten ihnen die Pfoten und töteten sie. Die Gliedmaßen schlossen sie an eine Pumpe an, die das Blut mit Sauerstoff und Nährstoffen anreicherte. So gelang es, das Gewebe über zwölf Stunden einigermaßen intakt zu halten.

Grausig mag auch die Methode wirken, die unter anderem Wiener Notfallmediziner entwickelt haben. Sie brachten Schweineherzen per Elektroschock zum Stillstand und pumpten dann eiskalte Kochsalzlösung in die Hauptschlagadern. So wurde der Organismus schlagartig gekühlt, alle pathologischen Prozesse wurden gestoppt.

Derart gelang es, die Tiere nach einer 35 Minuten-Phase klinischen Todes zu reanimieren, ohne dass die sonst unvermeidlichen Hirnschäden auftraten. Sollte sich diese Methode eines Tages auf Menschen übertragen lassen, könnten die Folgeschäden von Unfallopfern oder Infarktpatienten womöglich verringert werden.

Projekte wie dieses zeugen zugleich von der wachsenden Bedeutung der sogenannten translationalen Medizin. So heißt die entscheidende Phase in der Entwicklung neuer Therapien, wenn Forschungsergebnisse auf den Menschen übertragen werden sollen. Die dafür nötigen klinischen Studien sind teuer, jede Verkürzung dieser Phase würde selbst aufwendige Tierversuche rechtfertigen.

Das ist auch ein Grund, wieso Tiermediziner Wolf von der Universität München überzeugt ist, dass Schwein Ede und seine Verwandten vom Moorversuchsgut Badersfeld schon bald groß herauskommen werden in der Forschung: "Transgene Schweine erlauben es, länger am Tier zu forschen, bevor es an den Menschen geht."

Hinzu komme, dass die Schweine bei der Erforschung innerer Erkrankungen nicht so belastet werden wie bei manchen Experimenten der Vergangenheit. Vor allem aber sei die Qualität der Daten deutlich besser als in früheren Tiermodellen - nicht nur bei Diabetes.

"Humanmediziner ahnen gar nicht, was alles möglich ist"

"Nehmen Sie nur mal die Osteoporose", sagt Wolf. "Nager sind zu klein, um den typischen Bruch am Knochenende zu simulieren." Knochen, Sehnen, Knorpel - manches gehe eben nur am Großtier, und an Schweinen gehe es besonders gut.

"Die ersten sieben Schweine für das Osteoporose-Modell sind bereits fertig", sagt Wolf. Ein Mukoviszidose-Schwein stehe bereit, weitere transgene Krankheitsmodelle seien anderswo in Arbeit. "Wir können mittlerweile binnen eines Jahres ein neues Modell herstellen."

Zumindest auf Gut Badersfeld scheint das Klonen Routine geworden zu sein. Voraussichtlich im Mai wird ein Forscherkonsortium das komplette Schweinegenom veröffentlichen, das wird der Forschungsrichtung weiter Auftrieb geben. "Humanmediziner ahnen gar nicht, was alles möglich ist", sagt Wolf.

Schon träumen Forscher wieder vom Manhattan-Projekt der modernen Spitzenmedizin - der Xenotransplantation. Sie hoffen, Gewebe und Organe von Schweinen auf Menschen zu übertragen.

Ende der 1990er-Jahre war der Ansatz in Verruf geraten, nachdem es Hinweise gegeben hatte, dass krankheitserregende Viren vom Schwein auf den Menschen gebracht werden könnten. Nachdem sich die Befürchtungen nicht bestätigt haben und es mit den Stammzellen nicht so schnell vorangeht wie erhofft, gilt die Xenotransplantation wieder als Option.

So hat wiederum das Team von Wolf bereits transgene Schweine vorgestellt, deren Gewebe vor menschlichen Abwehrzellen geschützt ist. An der University of Minnesota gelang es dem Chirurgen Bernhard Hering, Diabetes bei Affen zu heilen, indem er Inselzellen aus der Bauchspeicheldrüse transgener Schweine implantierte.

Die Affen überlebten mit Schweineherzen viele Wochen. Nun wartet man darauf, dass die Xenotransplantations-Forschungsgruppe am Klinikum Großhadern in München Medizingeschichte schreibt und das erste Herz eines Schweines in der Brust eines Menschen schlägt.

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