Jäger und Sammler:Eins, zwei, viele

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So einfach geht das - im Amazonas-Dschungel lebt ein Eingeborenenvolk, das ohne eine Vorstellung von Zahlen auskommt.

Können in menschlichen Köpfen gedankliche Konzepte existieren, ohne dass es Worte für sie gibt? Diese Frage beschäftigt Philosophen und Linguisten seit langem. Peter Gordon von der Columbia-Universität hat jetzt mit einer ungewöhnlichen Studie zum mathematischen Denken einen neuen Beitrag zu der Debatte geleistet, den er in Science (Onlineversion, DOI 1094492) präsentiert.

Seine Ergebnisse deuten darauf hin, dass "Menschen ohne Begriffe für Zahlen auch keine Fähigkeit entwickeln, Mengen exakt wahrzunehmen", erklärt Gordon. Der Psycholinguist hat im Amazonas-Dschungel den Stamm der Pirahã besucht, der keine Worte für Zahlen kennt, die größer sind als zwei. Eine Anzahl von drei Dingen und mehr sind für die Pirahã einfach viele. Sie können sich Zahlen somit nicht besser vorstellen als Tauben, Schimpansen und Kleinkinder.

"Ungefähr eins"

Die etwa 200 Jäger und Sammler leben an einem Nebenfluss des Amazonas. Sie haben kaum soziale Hierarchien, sie kennen keine Kunst und auch kein Geld, stattdessen betreiben sie Tauschhandel. Ihre Sprache gehört zu den lautlich beschränktesten der Welt: Sie enthält nur zehn Konsonanten und Vokale. Obwohl die Pirahã Worte für eins und zwei haben (hói und hoí), bezeichnen selbst diese nur Annäherungen, sagt Gordon: So steht "hói" offenbar eher für "ungefähr eins" oder für eine kleine Menge.

Schon vor zehn Jahren hat Gordon den Stamm zum ersten Mal besucht - gemeinsam mit dem Linguisten Daniel Everett aus Manchester und dessen Frau Keren, die insgesamt 20 Jahre bei den Pirahã verbracht hat. Frauen und Kinder waren zu schüchtern, an Gordons Versuchen teilzunehmen. So stellte der Forscher nur den Männern Testaufgaben, mit denen er herausfinden wollte, wie sie mit Konzepten umgehen, die in ihrer Sprache keine Entsprechung haben.

Selbst bei der einfachsten Aufgabe stießen die Pirahã schnell an ihre Grenzen: Sie sollten eine Anzahl von bis zu zehn Batterien, die Gordon auf einem Tisch platziert hatte, nachlegen. Schon nach zwei bis drei Batterien versagten sie. Kaum zu bewältigen war für die Stammesangehörigen auch die Aufgabe, Striche auf einem Blatt Papier nachzuzeichnen: Bei Vorgaben von vier oder fünf Strichen zeichneten die Pirahã meist nur drei. Auch konnten sich die Männer Zahlen nicht merken. So legte Gordon vor ihren Augen acht Nüsse in eine Schachtel. Wenn er die Nüsse anschließend einzeln aus der Schachtel nahm, wussten die Männer nicht, wann die Schachtel leer sein musste.

Das vielleicht erstaunlichste Ergebnis lieferte ein Test, bei dem die Stammesangehörigen sahen, wie ein Bonbon in eine Schachtel gesteckt wurde, auf deren Deckel mehrere Fische abgebildet waren. Danach wurde ihnen die Schachtel mit dem Bonbon und eine weitere Schachtel mit entweder mehr oder weniger Fischen auf dem Deckel gezeigt. Sie wurden aufgefordert, eine Schachtel auszuwählen. Obwohl sie für die korrekte Wahl mit dem Bonbon belohnt wurden, lagen die Entscheidungen der Pirahã auf dem Niveau der Ratewahrscheinlichkeit. Ihre Leistung "entspricht dem, was man bei Kleinkindern und Tieren sieht; die Vorstellung einer genauen Eins-zu-eins-Übereinstimmung fehlt", sagt Gordon.

Bislang vermuteten einige Linguisten, dass Menschen über ein angeborenes Zahlenverständnis verfügen. Gordon aber findet, dass seine Ergebnisse diese Theorie zweifelhaft machen: "Angeboren ist nur die Fähigkeit, Zahlen bis zu drei zu erkennen." Er glaubt, dass diese Beschränkung der Pirahã damit zusammenhängt, dass ihre Sprache nicht selbstbezüglich ist. So können die Dorfbewohner keine Vergleiche wie "dieser Haufen Nüsse ist größer als jener Haufen" anstellen. Stattdessen würden sie sagen, dass ein Haufen klein und der andere groß ist.

Sprache als Gussform

Inwieweit sich Sprache und Denkvermögen wechselseitig beeinflussen, ist allerdings strittig. Gordon sagt, seine Studie stütze eine Hypothese des amerikanischen Linguisten Benjamin Lee Whorf. Der glaubte, dass Sprache eine Art Gussform ist, die das Denken formt und es nicht nur widerspiegelt. Auch die Psychologin Lisa Feigenson von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore folgert, dass die Sprache der Pirahã offenbar zu einem Zahlenverständnis führt, das sich "drastisch" von unserem unterscheidet.

Allerdings hätten andere Kulturen mit begrenzter Zahlenbegrifflichkeit in ihrer Sprache dennoch Wege entwickelt, solche Konzepte auszudrücken, gibt Feigenson zu bedenken. Gordons Kollege Daniel Everett geht ohnehin eher von einer Wechselwirkung aus: Das Fehlen von Worten und Vorstellungen für Zahlen sei wohl "das Ergebnis kultureller Einschränkungen, die Mengenbestimmungen entgegenstehen".

Diese Ansicht stützen auch Everetts Versuche, den Pirahã Zahlen beizubringen: Obwohl die Kinder Zahlworte aus dem Portugiesischen leicht lernten, verloren die Erwachsenen schnell das Interesse daran. Auch jahrelange Versuche, erwachsene Pirahã im Gebrauch der brasilianischen Währung zu unterweisen, blieben fruchtlos. Die Erwachsenen erklärten, ihre "Köpfe seien zu hart" für solche Dinge. Constance Holden

Dieser Artikel erscheint am heutigen Freitag im internationalen Wissenschaftsmagazin Science, das die AAAS herausgibt. Weitere Information: www.scienceonline.org, www.aaas.org

© SZ vom 20.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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