Neustart am Cern:Suche nach der neuen Physik

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Hier läuft es bald wieder rund: Der "Large Hadron Collider" von CERN. (Foto: fabrice Coffrini/AFP)

Der LHC, stärkster Teilchenbeschleuniger der Welt, ist bereit für einen Neustart mit nie zuvor erreichter Energie. Nur ein Kurzschluss verzögert den Start. Physiker erwarten Einblicke in ein neues Quanten-Universum - oder die große Leere.

Von Marlene Weiß

Demnächst soll es wieder losgehen, nach langem Winterschlaf. Dann sind die Dinge am Cern bei Genf wieder in ihrer natürlichen Ordnung: Der LHC, der mächtigste Teilchenbeschleuniger der Welt, wird das tun, wofür er gebaut wurde, und unter der Erde Protonen kreisen lassen. In den Kontrollräumen wird angespannte Geschäftigkeit herrschen, wenn Forscher an Bildschirmen jede Regung der Maschine überwachen. Tausende Physiker in aller Welt werden nervös auf neue Datenberge warten. Und Mike Lamont wird wissen, dass sich die Schufterei gelohnt hat - vorausgesetzt, alles geht gut. Zwei Jahre lang war der LHC abgeschaltet, um auf nie erreichte Energien vorbereitet zu werden.

Nun steht der Neustart bevor; ein jüngst aufgetauchter Kurzschluss verzögert ihn noch, aber spätestens in einigen Wochen soll es so weit sein. Lamont leitet am Cern den Betrieb des Beschleunigers, und damit auch die Wartungsarbeiten der vergangenen Jahre. "Erschöpfter Enthusiasmus", sagt er, sei jetzt das vorherrschende Gefühl. Er muss lachen dabei, so ganz könne er selbst noch nicht glauben, dass es wirklich geschafft sei, sagt er dann.

Für das Higgs-Teilchen reichte die halbe Energie noch aus

Weit über 100 Millionen Euro wurden investiert, damit der LHC endlich nahezu die enorme Energie erreichen kann, für die er ursprünglich ausgelegt war. In den ersten Betriebsjahren konnte er mit kaum mehr als halber Kraft arbeiten - eine Notlösung, nachdem er kurz nach dem Start im Jahr 2008 wegen eines fatalen Konstruktionsfehlers zusammengebrochen war. Die Notlösung reichte immerhin, um das ersehnte Higgs-Teilchen zu finden, das letzte fehlende Puzzleteil im Standardmodell der Teilchenphysik. Danach war Schluss, und Mike Lamonts Team machte sich an eine enorme Fleißarbeit: Etwa zehntausend Verbindungsstücke zwischen den riesigen Magneten, die den Teilchenstrahl auf eine Kreisbahn zwingen, wurden getestet und mit einer zusätzlichen Sicherung versehen, viele ganz ausgetauscht.

Denn ein solches Verbindungsteil hatte sich im Jahr 2008 als Schwachstelle des LHC erwiesen. Eine Art Kurzschluss reichte aus, um die milliardenteure Wundermaschine außer Gefecht zu setzen. Auch die supraleitenden LHC-Elektromagnete mussten wie Sportler trainiert werden, um immer stärkeren Strom auszuhalten.

Jetzt aber sollen alle Probleme behoben sein, und der LHC ist bereit für eine Energie von 6,5 statt vier Tera-Elektronenvolt pro Teilchen - zur Sicherheit vorerst immer noch etwas unter den sieben Tera-Elektronenvolt, für die das Gerät eigentlich gebaut ist. Den beiden Strahlen mit jeweils 120 Milliarden Teilchen wird das nahezu die Wucht von ICE-Zügen verleihen, beim Zusammenprall konzentriert auf dem Bruchteil eines Stecknadelkopfs.

Bis solche Kollisionen stattfinden können, kommt aber noch viel Arbeit auf Lamonts Team zu. "Jetzt, vor dem Start, genieße ich noch die relative Ruhe; die heiklen Sachen kommen erst danach", sagt er. Bis Mai sollen die Strahlen gut unter Kontrolle sein und erstmals aufeinanderprallen, vorerst mit wenigen Teilchen. Irgendwie müssen die Techniker auch noch die Elektronen-Wolken in den Griff bekommen, die von den vorbeifliegenden Protonen aus der Beschleuniger-Röhre geschlagen werden. Bis Jahresende kann es dauern, bis der LHC einigermaßen in Form ist.

Die Messungen aber beginnen sofort, und viele Physiker finden: Es wurde auch Zeit. "Wir sind alle sehr aufgeregt und warten nur noch auf das Startsignal", sagt Kerstin Borras. Sie ist Vize-Sprecherin des CMS-Experiments, einem der beiden größten Detektoren am LHC-Ring, die die Splitter aus den Teilchen-Kollisionen aufzeichnen. Nicht, dass man bisher Däumchen gedreht hätte: Noch sind nicht einmal die Datenberge, die der LHC bereits produziert hat, fertig analysiert. Auch am Detektor wurde viel gearbeitet, damit er mit den höheren Energien zurechtkommt: Teile wurden verbessert, Software optimiert, und das Kernstück des Detektors kann jetzt auf 20 Grad unter null gekühlt werden, damit es die starke Strahlung besser verträgt.

Jetzt aber kann es losgehen, auf eine Fahrt ins Ungewisse. Denn anders als beim Start, als man ziemlich fest mit dem Higgs-Teilchen rechnen konnte, gibt es keinen klaren Auftrag. Das Standardmodell der Teilchenphysik ist vollständig und funktioniert geradezu ärgerlich gut, bislang hat es sich bei keinem Fehler erwischen lassen. Aber auf viele Fragen gibt es keine Antwort: Wie passt die Gravitation in die Teilchenphysik? Warum gibt es im Universum kaum Antimaterie? Woraus besteht die Dunkle Materie, die offenbar das All anfüllt? Physiker haben Modelle dafür, aber bislang fehlt jeder Fingerzeig, welcher Ansatz der richtige ist. Der LHC könnte endlich einen zutage fördern; ein neues Teilchen oder einen neuen Effekt. "Ich glaube schon, dass es Hinweise geben wird, noch ist alles offen", sagt Borras. "Wir sind gespannt darauf, was die Natur jenseits der Higgs-Entdeckung für uns bereithält."

Warum gab es noch keine Hinweise auf neue Physik? Sind die Effekte nicht messbar?

Wenn sie denn etwas bereithält. Daran aber zweifeln viele Physiker langsam, und machen sich auf herbe Enttäuschungen gefasst. Denn dass der erstarkte LHC eine Sensation herbeizaubert, ist alles andere als ausgemacht. "Ich glaube nicht, dass neue Physik gleich um die Ecke wartet", sagt Adam Falkowski, Teilchenphysiker in Paris, oft am Cern und unter dem Namen Jester ein viel gelesener Blogger. "Die einfachste Erklärung dafür, dass es bislang nicht den geringsten Hinweis auf so etwas gegeben hat, ist, dass es eben nicht da ist." Nicht in dem Bereich jedenfalls, den der LHC ausleuchten kann. Dass da mehr sein muss, als das Standardmodell vorhersagt, ist für Falkowski indes klar. Nur fürchtet er, dass es der LHC nicht finden kann.

Für manche Modelle aber wäre das realistischerweise das Aus. Sollten sich etwa die sogenannten Supersymmetrie-Teilchen, auf die seit Langem viele Physiker hoffen, nicht bald am LHC zeigen, lässt sich dafür nur noch mit Mühe eine gute Entschuldigung finden. "Es kann gut sein, dass es Zeitverschwendung ist, mit dieser Intensität an Supersymmetrie zu arbeiten", sagt Falkowski. "Es ist eine schöne Idee, aber so etwas passiert, so ist das Leben." Aber klar, er sei auch aufgeregt, vielleicht sehe man ja doch etwas. Noch ist es nicht zu spät: Noch hat die entscheidende Runde am LHC nicht begonnen.

© SZ vom 25.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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