Ästhetik-Forschung:Das Wahre, Gute - und der geheimnisvolle Rest

"Ist Schönheit messbar?" In Berlin trafen sich Musik-, Literatur- und Kunsthistoriker, Mathematiker, Psychologen, Neurowissenschaftler, Designer und sogar Juristen, um eine Formel für Ästhetik zu finden.

Gerhard Matzig

Die geheimnisvollste Formel der Welt ist nicht die von Coca-Cola. Und auch nach der Kenntnis von Abschuss-Codes für Atomraketen trachtet nicht jedermann. Was man dagegen wirklich wissen möchte: Das ist die universell gültige und allen Moden, Geschmacksurteilen - sowie insbesondere dem Feuilleton - enthobene Formel für Schönheit.

Ästhetik-Forschung: Die dickbauchige Anmut der Venus von Willendorf oder der kurvige Charme der Venus von Botticelli auf diesem Bild lassen sich weder mit dem Body-Mass-Index noch mit anderen Formeln erfassen. Das ist ja gerade das Schöne.

Die dickbauchige Anmut der Venus von Willendorf oder der kurvige Charme der Venus von Botticelli auf diesem Bild lassen sich weder mit dem Body-Mass-Index noch mit anderen Formeln erfassen. Das ist ja gerade das Schöne.

(Foto: Foto: Getty Images)

Seit Jahrhunderten ist die Menschheit auf der Suche nach einer Regellehre, mit deren Hilfe sich "das Schöne" im Sinne des platonischen Dreiklangs vom Wahren, Schönen und Guten erklären, produzieren und rational beurteilen ließe. Das, was ist (also das Wahre), haben Philosophie und Naturwissenschaften so gründlich wie möglich durchleuchtet. Das, was sein soll (also das Gute), umschreiben Ethik und Religion auf nachvollziehbare Weise.

Nur das, was gefällt, was in einem traditionellen Sinn anmutig und harmonisch erscheint, das Schöne, scheint sich fast vollständig dem konsensualen Zugriff zu entziehen: Die Ästhetik als philosophische Teillehre von der Schönheit hat es bis auf den heutigen Tag nicht geschafft, eine überzeitlich gültige und interkulturell praktikable Theorie anzubieten. Die Sternchen oder Daumen, die manche emsige Kultur-Teile in den Zeitungen so plakativ für Filme oder Bücher vergeben, beiseite gelassen.

Auch deshalb las sich die Ankündigung zum 12. Berliner Kolloquium der Gottlieb-Daimler- und Karl-Benz-Stiftung wie eine Sensation. Die Frage "Ist Schönheit messbar?" sollte endlich positiv beantwortet werden.

"Was bislang fehlt", so der Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein, der die Tagung umsichtig verantwortete, "ist eine empirische Untersuchung der ästhetischen Eigenschaften, also die Suche nach Argumenten, die die Ästhetik eines Objekts wissenschaftlich begründen - genauso wie Gesetzmäßigkeiten anderer Gegebenheiten unserer Welt."

Vermessenheit im wörtlichen Sinne

Eine vitalisierend fachübergreifend besetzte Expertenrunde - Musik-, Literatur- und Kunsthistoriker, dazu Mathematiker, Psychologen, Neurowissenschaftler, Designer und Juristen - traf sich in diesem Sinn am vergangenen Mittwoch in den Räumen der Konrad-Adenauer-Stiftung am Berliner Tiergarten, um fassbar zu machen, "warum wir ein Gedicht oder eine Arie, ein Bild oder auch ein Auto als schön empfinden". Welch Vermessenheit im wörtlichen Sinne. Um aber das Schönste an diesem tatsächlich anregenden Kolloquium vorwegzunehmen: Es ist sein bravourös gelingendes Scheitern als Form der Destruktion.

Denn die S-Formel bleibt geheim, nur die Sehnsucht danach lässt sich auf enthüllende Weise beschreiben: Ist uns die Formel für Schönheit womöglich wichtiger als die Schönheit selbst? Zwar wird die Gesetzmäßigkeit der Schönheit schon seit der Antike diskutiert - man denke etwa an die Proportionallehre der Renaissance, an den Goldenen Schnitt und andere mathematische Harmonie-Beschreibungen.

Das Wahre, Gute - und der geheimnisvolle Rest

Aber erst jetzt, in der ökonomistisch geprägten Konkurrenz-Ära der Rankings und befeuert von neueren Forschungen in der Neuroästhetik, scheint die Formelsuche wieder zur Gralssuche zu werden. Zum Glück vergebens, denn alles andere führt zum Malen oder Dichten nach Zahlen. Gegen solche Motivik wendet sich Albert Einsteins Satz, wonach nicht alles, was man zählen kann, zähle. "Und nicht alles, was zählt, kann man zählen."

Die Vorstellung, man könne sich einer Skulptur, einem Haus, einer Blume oder einem Gedanken mit einer Art Geigerzähler nähern, oder mit einem pH-Wert-Teststreifen, um den Grad der Schönheit zu erfassen, ist zu teuflisch, um wahr werden zu dürfen. Auch wäre damit noch nichts über das Gelingen oder Scheitern gesagt.

Arithmetik für den Heroin-Chic gesucht

Nichts über das Werk. Und noch weniger etwas über die Kultur. Literatur-, Musik oder Kunst-Kritik ist im Sinn der vergleichenden Auto-Expertise (Preis, Ausstattung, von null auf hundert, Verbrauch...) nicht zu haben.

Doch muss man zugeben: Es besteht ein Bedürfnis nach solcher Rationalität. "De gustibus non est disputandum", über Geschmack lässt sich nicht streiten: Diese Sentenz von einem hoffnungslos irrationalen Kern der Ästhetik, der die Schönheit im Sinne der Kantischen "Urteilskraft" lediglich als subjektive Interpretation, nicht aber als objektive Eigenschaft beschreibt, nervt ja gerade immer dann, wenn man sich mitten im schönsten, weil anregendsten Streit befindet.

Dann nämlich werden Argumente ausgetauscht, Ableitungen hergestellt, Überzeugungen angestrebt - und all das wird banalisiert, indem man das Thema schließlich zur Geschmackssache erklärt und ins je eigene Belieben stellt. Da hätte man dann doch ganz gerne ab und zu eine Gelungenheits-Formel oder einen Schönheits-Geigerzähler zur Hand.

Das ambitionierte Berliner Kolloquium muss dennoch beides schuldig bleiben. Auch wenn Manfred Spitzer für die Gehirnforschung aufzeigen kann, dass das Empfinden von Schönheit als Funktion im Frontalhirn im zeitlichen Zusammenhang mit den ersten von Menschen geschaffenen Kunstwerken steht. "Bei der Betrachtung von Gesichtern und Landschaften scheinen also eher biologisch begründete Mechanismen als kulturell erworbene Ideen im Spiel zu sein."

Genau das wäre die Grundlage für einen universellen Schönheitsbegriff. Aber schon die Rezeption etwa der weiblichen Schönheit gibt zu denken. Von der drastisch bauchigen Venus von Willendorf aus der jüngeren Altsteinzeit über die immer noch anmutig kurvierte Venus von Sandro Botticelli im 15. Jahrhundert ist es nicht nur ein weiter Weg bis zu den magersüchtigen Exemplaren des Heroin-Chic. Man sieht daran auch, dass Zeit und Ort zu den Variablen der Schönheit gehören. Der Bodymass-Index scheidet daher als ästhetische Messgrundlage aus: Die Venus von Willendorf müsste man heute als fetthässlich beschreiben.

Das Wahre, Gute - und der geheimnisvolle Rest

Ebenso verhält es sich mit den Proportional-Lehren, die klassischerweise den Begriff des Schönen vom menschlichen Körper als Natur-Ideal ableiten. Holger Höge vom Institut für Psychologie der Universität Oldenburg ging in diesem Zusammenhang auf die berühmte Versuchsanordnung nach Fechner ein, der im 19. Jahrhundert das Schönheitserleben als alltägliches psychologisches Phänomen beschrieben hat, das sich im Experiment nachweisen ließe.

Einigen Versuchspersonen wurden deshalb gleichgroße, aber unterschiedlich proportionierte Tafeln gezeigt. So zielstrebig wie unbewusst einigte sich die Gruppe unter dem Aspekt der Gefälligkeit mehrheitlich auf jene Tafel, die dem Goldenen Schnitt entsprach. Höge stellte dieses Experiment nach: Für die klassische Harmonielehre findet sich immer noch ein klares Votum. Aber auch - und darauf kommt es an: für das Quadrat als neuere formale Ausprägung. Selbst das angeblich natürliche Gefühl für Proportionen, die in der Natur zu finden sind, ist also eines nicht - natürlich.

Noch deutlicher wandte sich Peter Deuflhard vom Berliner Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik in der Beantwortung der Frage "Was ist ein schönes Gesicht?" gegen die Illusion gesetzmäßiger, gar planbarer oder chirurgisch herstellbarer Schönheit - also gegen die boomende "Science of Beauty". Fast genüsslich widerlegte er zwei der gängigen Schönheits-Hypothesen, wonach symmetrische oder eben völlig durchschnittliche Gesichter als "schön" gelten dürfen, indem er die methodischen Schwachstellen der zugrundeliegenden Experimente aufzeigt.

Am Computer konstruierte Schönheiten bleiben flach

Die rätselhafte Unansehnlichkeit der "digital Beauties" gibt ihm augenscheinlich recht. Zwar lassen sich im Computer nach bestimmten mathematischen Annahmen Schönheiten als Analogien zu einem verabredeten, präzise berechenbaren Schönheitsbegriff virtuell erzeugen: Aber über die Schönheiten, die eigentlich exakt mit dem Konsens "schön" übereinstimmen, ist in der Rezeption dennoch kein Konsens mehr zu bilden. Es ist, als ob den digitalen Beauties etwas Zwingendes fehlt, vielleicht so etwas wie Leben. Es bleibt dabei: Schönheit entsteht nicht im Rechner, sondern vor allem im Auge des individuellen Betrachters und in der Absprache einer kulturellen Gemeinschaft. Gerade deshalb aber lässt sich darüber streiten. Das ist ja das Schöne daran.

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