Süddeutsche Zeitung

Politischer Kurswechsel:Ohne Zuwanderung sähe Deutschlands Zukunft düster aus

Die CDU wendet sich von Merkels Flüchtlingspolitik ab, die SPD hält Hartz IV plötzlich für unsozial. Beides ist kurzsichtig und falsch.

Kommentar von Marc Beise

Die SPD wendet sich von der Arbeitsmarktpolitik ihres früheren Kanzlers Gerhard Schröder ab (neues Motto: Hartz IV ist unsozial), die CDU von der Flüchtlingspolitik ihrer aktuellen Kanzlerin Angela Merkel ("2015 darf sich nicht wiederholen"). Zwei fundamentale Kurskorrekturen, die geeignet sein mögen, die Parteien nach innen zu befrieden und neu zu motivieren. Die womöglich sogar dazu taugen, die Parteien in der Wählergunst wieder nach vorne zu bringen. Die aber beide in der Sache kurzsichtig und falsch genannt werden müssen. Die weltfremd sind und Deutschland schaden, jede auf ihre Art und Weise.

Indem die SPD Schröders "Agenda 2010" zu einem unsittlichen Versuch abstempelt, mehr Arbeit zu schaffen, und stattdessen für einen "neuen Sozialstaat" mit mehr und höheren Leistungen plädiert, kehrt sie zum alten Versorgungsstaat zurück. Sie senkt die Anreize, sich um Arbeit zu bemühen und bürdet dem Land höhere Belastungen auf, ausgerechnet am Beginn einer Ära knapperer Kassen. Die CDU wiederum setzt mit ihrer Abkehr von der flüchtlingsfreundlichen Politik der Kanzlerin das Signal, dass Deutschland eben kein weltoffener Staat sein soll, dass im Zweifel Ab- und Ausgrenzung vor Integration geht.

So geht es nicht: Die SPD will die soziale Wende, die CDU eine neue Flüchtlingspolitik

Zugegebenermaßen nehmen beide Maßnahmen ein verbreitetes Unbehagen in der Bevölkerung auf: Hier das Unbehagen, dass es in diesem reichen Land nicht mehr ausreichend gerecht zugehe. Dort die Furcht, mit der Nichtschließung der Grenzen zu weit gegangen zu sein. Unbestreitbar auch gibt es auf beiden Gebieten politischen Nachholbedarf. Den teilweise harten Agenda-2010-Maßnahmen fehlten soziale Korrekturen. Auch in der Flüchtlingspolitik braucht es Anpassungen, über bessere Kontrollen und leichtere Abschiebungen wird zurecht verhandelt, auch über eine klarere Trennung von Asyl und Zuwanderung.

Beim Asyl geht es darum, im europäischen Verbund wirklich Bedürftige aufzunehmen. Mit einem dringend notwendigen Zuwanderungsgesetz sollen die Menschen gesucht und gefunden werden, die Deutschland braucht, um seinen Lebensstandard bei schrumpfender Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Also: Nachbesserungen - wunderbar, Kurswechsel - bitte nicht.

Wer die Sozialpolitik zum vorherrschenden Ziel der Wirtschaftspolitik macht, verkennt die Herausforderungen der Zeit. Angesichts von Globalisierung und Digitalisierung muss es vorrangig darum gehen, die Arbeits- und Standortbedingungen der Unternehmen zu verbessern, in Infrastruktur und Bildung zu investieren. Nur das schafft Arbeit. Arbeit, die wiederum Wohlstand sichert und einen ambitionierten Sozialstaat überhaupt erst möglich macht.

Ebenso verkennt die Lage, wer in der Migrationspolitik Aus- und Abgrenzung forciert, statt Integration. Ohne Zuwanderung sähe Deutschlands Zukunft düster aus, das Land müsste über jeden Migranten froh sein, der sich integrieren lässt. Soeben hat die Bertelsmann-Stiftung durchgerechnet, dass in den nächsten 40 Jahren netto mindestens 260 000 Einwanderer notwendig wären, um den Arbeitskräftebedarf zu decken - jährlich! Andernfalls könnte die Zahl der Arbeitskräfte bis 2060 um bis zu 16 Millionen auf dann noch 31 Millionen zurückgehen; andere Studien bestätigen diesen Trend.

Mit ihren Kurswechseln zeigen SPD und CDU, wie kleingeistig sie sind

Heute schon klagen die Unternehmen nahezu einhellig über einen wachsenden Mangel an Fachkräften, sie betteln förmlich darum, Migranten ausbilden und beschäftigen zu dürfen - häufig immer noch vergeblich. Laut Bundesagentur für Arbeit verschärfte sich die Situation im Verlauf des vergangenen Jahres vor allem in Handwerks- und Bauberufen.

Auf diese Integration, um die sich Bürger, Unternehmen und Handwerksbetriebe seit drei Jahren in häufig rührender Art und Weise und übrigens zunehmend erfolgreich bemühen, müsste sich die Politik mehr als auf alles andere konzentrieren; stattdessen übt die CDU nun nicht zuletzt auf Druck der CSU die Kehrtwende.

Die große Koalition ist seit ihrem durch die Verhältnisse erzwungenen Bündnis vor einem Jahr eine Koalition der Kleinmütigen. Während die regierenden Minister konstruktiv zusammenarbeiten, streben ihre Parteien auseinander. Mit ihren neuesten Beschlüssen bestätigen SPD und CDU nicht nur diesen Kurs, sie offenbaren auch, wie kleingeistig sie doch sind.

Man kann nur hoffen, dass die CDU-Kanzlerin Angela Merkel und der SPD-Vize Olaf Scholz sich dem Druck ihrer eigenen Parteifreunde bis zum Ende der Koalition heldenhaft widersetzen.

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SZ vom 14.02.2019/vwu
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