Zulieferindustrie:Brief des Schreckens

Lesezeit: 3 min

In der Produktion bei ZF Friedrichshafen sind Mindestabstände auf dem Boden markiert und Arbeitsplätze durch Plexiglasscheiben getrennt. (Foto: Felix Kästle/dpa)

Der ZF-Chef schreibt seinen Mitarbeitern - und zeigt dabei auf, was auf die gesamte Branche wegen der Corona-Krise zukommt.

Von Stefan Mayr, Stuttgart

Derart klare Ansagen gibt es in der traditionell eher verschwiegenen Auto-Industrie selten. Firmenchef Wolf-Henning Scheider hat den 148 000 Mitarbeitern des Technologie-Konzerns ZF Friedrichshafen in einem Brief die Probleme seines Unternehmens mitgeteilt. Seine deutlichen Worte erschrecken nicht nur die ZF-Belegschaft. Sie zeigen auch, worauf sich alle Zulieferer der Automobil-Hersteller angesichts der Corona-Krise gefasst machen müssen.

Denn Scheider kündigt den Abbau von 15 000 Stellen bis 2025 an - das sind zehn Prozent aller Mitarbeiter und macht das Ausmaß des bevorstehenden Einschnitte deutlich. Experten betonen, dass der drittgrößte Zulieferer Deutschlands kein Einzelfall sein wird. "Ich mache mir große Sorgen um unsere Branche", sagt Baden-Württembergs IG-Metall-Chef Roman Zitzelsberger. Die zwei noch größeren deutschen Zulieferer Bosch und Continental halten sich mit konkreten Zahlen zwar zurück, doch in der Branche wird ein massiver Jobabbau erwartet. Bei Conti in Hannover dauern die Verhandlungen mit den Arbeitnehmern bereits länger als geplant an. Und bei Bosch in Stuttgart wagte Betriebsrat und Aufsichtsratsmitglied Mario Gutmann im Fachblatt Automobilwoche bereits eine düstere Analyse: "Bis zu 20 Prozent Überkapazitäten" gebe es in der Verwaltung. Auch die Standorte für Forschung und Entwicklung werde es hart treffen. Die Rede ist von bis zu 3000 Jobs nur im Großraum Stuttgart.

Und wenn die großen Lieferanten mit dem Schrumpfen beginnen, dann wird das bald auf viele kleine Sub-Zulieferer durchschlagen. Eine Umfrage des Verbands der Automobilindustrie ergab, dass bis Ende Juni schon 39 Prozent der Unternehmen Personal abbauen. Bis Ende Juli werden es sogar 65 Prozent sein. Manche Firmen erwägen, bis zu 40 Prozent ihrer Jobs zu streichen. Bei Continental stehen bis Ende 2023 ebenfalls 15 000 Stellen auf dem Prüfstand, 5000 davon in Deutschland. Die Schließung mehrerer Standorte ist bereits besiegelt. Im ersten Quartal brach der Gewinn um fast die Hälfte ein. Die Aktie fiel binnen zwei Jahren von 250 auf unter 60 Euro im vergangenen März. Die Bank Morgan Stanley hat Conti jüngst auf "Halten" herabgestuft, derzeit ist das Papier 88 Euro wert.

Die Zuliefererbranche litt schon vor Corona unter dem Einbruch des Pkw-Markts, nun verschärft die Pandemie die Krise zusätzlich. Bei ZF ist die Lage besonders angespannt, da der Konzern zuletzt hohe Schulden aufnahm, um die milliardenschweren Übernahmen der US-amerikanischen Zulieferer TRW und Wabco zu finanzieren. Diese Kredite fallen ZF nun vor die Füße, sie bedrohen die "finanzielle Unabhängigkeit" des Unternehmens, so räumt es Scheider in seinem Rundbrief ein, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt: "Wenn wir bestimmte Kennzahlen verfehlen, könnten externe Kreditgeber Einfluss auf unsere Geschäftsentscheidungen fordern." Er möchte dies "verhindern und weiterhin unabhängig den ZF-Weg gehen", verspricht Scheider.

Deshalb müsse er in den kommenden fünf Jahren bis zu 15 000 Arbeitsplätze abbauen, davon etwa die Hälfte in Deutschland. Scheider beteuert, alle bislang getroffenen Sparmaßnahmen reichten "bei Weitem" nicht aus. "Denn die Krise wird länger dauern, und wir werden selbst 2022 beim Umsatz spürbar unter unseren Planungen liegen." Damit steht für Scheider fest: Nach der aktuellen Krise werde es im Gegensatz zur Finanzkrise 2008 keine schnelle Erholung geben.

Scheider hat bereits Investitionen gekürzt und Restriktionen bei Einstellungen und Geschäftsreisen verhängt. Viele Mitarbeiter verzichten auf Gehalt oder sind in Kurzarbeit. Aber jetzt fordert er noch mehr: "Kurzfristig wird das Unternehmen zusätzliche Beiträge aus dem Kreis der Mitarbeiter brauchen, um das Jahr 2020 zu bewältigen." Als Stiftungs-Unternehmen ist ZF in der Autoindustrie ein Sonderfall; es gehört zu 93,8 Prozent der Zeppelin-Stiftung, deren Aufsichtsratschef ist der Oberbürgermeister von Friedrichshafen. An vielen ZF-Standorten sind bis Ende 2022 betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen. Was danach kommt, ist offen, wie Scheider im Brief andeutet: Stellenabbau sei für ZF stets das allerletzte Mittel, "solange andere Maßnahmen noch möglich sind", betont er. Aber: "Solchen Spielraum haben wir aktuell nicht mehr, weshalb wir jetzt schnell und konsequent handeln müssen."

Die Gespräche mit Betriebsrat und Gewerkschaft über konkrete Konzepte laufen bereits. "Die Lage ist ernst - wie in der gesamten Zulieferindustrie", bestätigt Helene Sommer von der IG Metall Friedrichshafen. "Aber wir erwarten von dem Unternehmen, diese Krise nicht auf dem Rücken der Beschäftigten auszutragen, sondern alles zu tun, um Beschäftigung und Standorte zu sichern."

© SZ vom 30.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: