Streit um Leiharbeit:Verliehen und verraten

Welche Arbeitswelt strebt die Gesellschaft an? Sollen nur die Arbeitgeber profitieren, weil sie ihr Personal rasch der Auftragslage anpassen können? Leiharbeit braucht klare Regeln und das Prinzip der gleichen Bezahlung - spätestens nach drei Monaten.

Detlef Esslinger

Die Wirtschaftswissenschaften unterscheiden sich von den Naturwissenschaften unter anderem dadurch, dass viele ihrer scheinbaren Erkenntnisse nichts anderes als Glaubenssätze sind. Wenn es zum Beispiel bei einer Außentemperatur von minus ein Grad zu Niederschlag kommt, so gibt es in der Meteorologie keine zwei Meinungen, welcher Art dieser Niederschlag sein wird. Diskutieren jedoch Ökonomen die Frage, wie man Arbeitsplätze schafft, wird man stets fundamental gegensätzliche Behauptungen zu hören bekommen. Da spielen eben immer auch unterschiedliche Wertvorstellungen und Menschenbilder eine Rolle, anders als bei der Frage Regen oder Schnee. Und schon ist man mitten in der Debatte um die Leiharbeit, die angeblich so stark zum Jobwunder in Deutschland beigetragen hat und die dennoch so umstritten bleibt, wie die Verhandlungsnacht zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün wieder einmal gezeigt hat.

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Baustelle in Berlin-Mitte - auch im übertragenen Sinne: Die Leiharbeit hat stark zum Aufschwung beigetragen, doch sie ist nach wie vor umstritten.

(Foto: dapd)

Indes hat auch diese Debatte Teile, in denen es keine zwei Meinungen gibt: dass Leiharbeiter bis zu 50 Prozent weniger verdienen als die Stammbeschäftigten eines Betriebs; dass jede dritte Neueinstellung im vergangenen Jahr in Verleihfirmen stattfand; dass jeder achte Leiharbeiter zusätzlich auf Hartz IV angewiesen ist. In Bayern sind 85 Prozent aller Leiharbeiter länger als drei Monate im Betrieb.

Nun gehört es gerade zum Konzept, dass ein Leiharbeiter billiger als ein regulär Beschäftigter sein soll. Der zweite große Vorteil für jeden Personalchef ist, dass er den Leiharbeiter schnell wieder los wird, wenn gerade kein Bedarf mehr für ihn besteht. 900.000 Menschen arbeiten in Deutschland derzeit in dieser Form der Beschäftigung. Sie bilden eine Reserve auf dem Arbeitsmarkt, eine zweite Welt, die auch der Grund dafür ist, warum es eine andere, jahrelang leidenschaftlich geführte Debatte nicht mehr gibt: die über den Kündigungsschutz.

Umstritten ist die Leiharbeit aufgrund der quantitativen Bedeutung, die sie inzwischen hat. Gedacht war sie mal dafür, Unternehmen schnell Personal für vorübergehenden Bedarf zu verschaffen: wenn ein regulärer Mitarbeiter längere Zeit ausfällt oder es einen Auftragsboom gibt, der aber wohl nicht von Dauer sein wird. Natürlich ist es im Laufe der Zeit nicht bei diesen beiden Anlässen geblieben. Vielmehr kamen zahlreiche Unternehmer auf die Idee, hausinterne Leiharbeitsfirmen zu gründen, ihrem Stammpersonal zu kündigen und es dann über die neue Verleihfirma wieder einzustellen, zu schlechteren Bedingungen selbstredend. Und nach überstandener Wirtschaftskrise gehen viele dazu über, zunächst einmal vor allem Leiharbeiter einzustellen.

Unberechenbare Märkte

Zumindest letzteres ist den Firmen auch gar nicht übel zu nehmen. Viele Märkte sind in den zurückliegenden Jahren immer unberechenbarer, immer schwankender geworden. Krise, das bedeutete für einen LKW-Hersteller noch zur Jahrtausendwende, dass er innerhalb von zwei Jahren mit einem Rückgang der Produktion um ein Drittel rechnen musste. Inzwischen heißt Krise, einen Einbruch um die Hälfte bewältigen zu müssen - und zwar innerhalb eines Jahres. Es ist die Aufgabe eines Personalchefs, die Möglichkeiten des Arbeitsrechts auszureizen. Was dem Steuerberater die doppelte Haushaltsführung ist, das ist dem Personalchef die Leiharbeit.

Die Ökonomie hält keine unwiderlegbare Antwort auf die Frage bereit, ob die Leiharbeit zum Jobwunder in Deutschland beiträgt - und ob die Politik ihr den Garaus bereiten würde, falls sich Schwarz-Gelb und Rot-Grün nun doch noch auf die gleiche Bezahlung von Leih- und Stammarbeitern verständigen. Die Debatte um die Leiharbeit ist daher weniger eine ökonomische als eine politische. Es geht nicht so sehr um die Frage, wie viele Jobs die Leiharbeit schafft (oder auch nicht). Sondern es geht darum, dass eine Gesellschaft entscheiden muss, welche Arbeitswelt sie anstrebt - und ob sie es zum Beispiel den Arbeitgebern erlauben will, sämtliche Risiken auf Arbeitnehmer zu verlagern. Soll sie eine Beschäftigungsform erleichtern, die vor allem den Schwächeren das gesamte Risiko überträgt, denjenigen, die immer bloß vor der Wahl stehen, Leiharbeitsplatz oder gar kein Arbeitsplatz?

Die Leiharbeit verschafft den Arbeitgebern bereits in ihrer ursprünglich angedachten Form den großen Vorteil des entfallenden Kündigungsschutzes. Sollten die Aufträge wieder so stark einbrechen, dass auch die Stammbelegschaft eigentlich zu groß ist, stehen ihnen darüber hinaus weitere Instrumente zur Verfügung: der Abbau von Arbeitszeitkonten oder die Kurzarbeit. Aber soll man ihnen auch noch zugestehen, dass sie ihren Leiharbeitern erst nach neun Monaten den gleichen Lohn wie Stammarbeiter bezahlen müssen? In der Realität hieße dies: nie. Union und FDP schlagen das in den Hartz-IV-Verhandlungen vor. Wer verhindern will, dass die Leiharbeit eines Tages zur Regelarbeit wird, der muss die Unternehmer vor dieser Versuchung bewahren. Das Prinzip der gleichen Bezahlung muss spätestens nach drei Monaten gelten. Oder man bereitet einer Arbeitswelt den Weg, in der es die Marktwirtschaft nur noch in der freien, aber nicht mehr in der sozialen Ausprägung gäbe.

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