Zum Ende ihrer in 35 Tweets erzählten Geschichte wird Erica Joy grundsätzlich: "Hätte Ida B. Wells bei Google gearbeitet, so hätte sie wohl viel Zeit im Büro ihres Chefs verbringen müssen, um über ihre Zukunft zu reden."
So wie Erica Joy.
Die Amerikanerin arbeitet bei Google. Und sie hat ein Experiment gewagt: Sie hat über das interne Firmennetzwerk eine Art Rechenmaschine verteilt, mit der sich die Google-Gehälter nach gewissen Kriterien vergleichen lassen. Im Kreis der Kollegen kam das enorm gut an. Bei ihren Chefs allerdings überhaupt nicht. Von ihren Vorgesetzten wurde Joy gerügt, von vielen anderen Mitarbeitern gefeiert.
Manche sprachen sich sogar dafür aus, dass sie einen Peer Bonus von 150 Dollar erhalten sollte. Für diese Prämie können sich Mitarbeiter bei Google gegenseitig vorschlagen, wenn sie etwas Außergewöhnliches geleistet haben. Joys Chef aber verweigerte ihr dieses Geld - obwohl ihr weißer Kollege solch ein Extra erhielt.
Nun hat Erica Joy damit sicherlich noch nicht so viel für die Gleichberechtigung geleistet wie die Bürgerrechtlerin Wells. Ihr Verdienst liegt eher darin, dass sie etwas ausgesprochen hat, was viele in einem so lockeren Laden wie dem Googleplex wohl nicht erwartet hatten: Ja, auch in einem Unternehmen, wo man mit Flipflops ins Büro kommen, stets in eine der überall stehenden Schalen mit Früchten greifen oder sich bei Verspannungen massieren lassen kann, gibt es Gehaltsunterschiede und mitunter ziemlich unangenehme Chefs.
Zwar heißt es, dass Amerikaner ähnlich wie Schweden oder Engländer eher bereit sind, über ihr Gehalt zu reden. Aber vollkommene Transparenz gibt es auch bei ihnen nicht. Das Anliegen, mit mehr Offenheit für eine fairere Vergütung zu sorgen und so zu verhindern, dass der Chef seine Leute nach Gutdünken belohnen und bestrafen kann, ist in der Theorie ein gutes. In der Praxis zeigt sich: Um gleiche Arbeit gleich zu bezahlen, muss sie bewertet werden. Das ist eine heikle Angelegenheit. Wer leistet mehr - eine Krankenschwester, die mehr Verbände pro Tag wechselt als ihre Kollegen, oder diejenige, die sich mehr Zeit nimmt, um den Patienten zuzuhören?
Heikel wird die Bewertung auch in Konzernen, in denen die Mitarbeiter verschiedene und nicht immer vergleichbare Aufgaben übernehmen - oder gar auf unterschiedliche Standorte verteilt sind: In Mecklenburg werden nun einmal andere Gehälter gezahlt als in München. Soll sich die Bezahlung eines Ingenieurs also an dem orientieren, was der Kollege im gleichen Unternehmen 800 Kilometer südlich bekommt - oder an dem, was der Kollege bei der Konkurrenz in der Region erhält?
Je schwieriger es ist, die Leistung objektiv zu messen, desto schwieriger wird es auch, Verständnis dafür zu wecken, dass der Kollege etwas mehr bekommt. Dann stört die Transparenz, die für mehr Gerechtigkeit sorgen soll, den Betriebsfrieden. Dann sorgt sie für Neid und Missgunst.
Nur weil Manager wissen, dass der Kollege mehr bekommt, strengen sie sich nicht an
Sozialwissenschaftler haben gezeigt, dass Menschen es nicht mögen, schlechter dazustehen als andere. Nicht nur im Büro, auch in der Nachbarschaft sind sie glücklicher, wenn sie ein bisschen mehr haben. Axel Ockenfels von der Universität Köln beispielsweise hat mit zwei anderen Ökonomen die Boni in einem Dax-Konzern untersucht. Das Ergebnis: Nicht die Summe an sich, die auf der Lohnabrechnung steht, macht Manager glücklich oder unglücklich, sondern das Wissen darum, ob es mehr oder weniger als bei den Kollegen ist.
Wer bei der Entlohnung hinter den anderen zurückfällt, ist tendenziell unzufrieden mit seinem Job. Allerdings: Wer deutlich über dem Schnitt liegt, ist darüber nicht glücklicher.
Auf eine Einschränkung legt Ockenfels wert: "Bei geringen Einkommen spielt mehr oder weniger Geld selbstverständlich auch eine wichtig Rolle für die Zufriedenheit im Job." Anders sei es bei gut bezahlten Managern. Denen gehe es nicht so sehr um ein paar Tausend Euro mehr oder weniger, sondern vor allem um den Vergleich mit den Kollegen. Überrascht habe ihn, dass die Unzufriedenheit über einen im Vergleich geringen Bonus viele Manager demotiviere, sich der Vergleich mit den anderen aber nicht dazu eigne, sie anzutreiben. Nur weil sie wissen, dass der Kollege mehr bekommt, strengen sie sich nicht an.
Eine wichtige Erkenntnis aus seiner Untersuchung, die sich mit den Ergebnissen der psychologischen und ökonomischen Verhaltensforschung deckt: Die Motivation von Mitarbeitern hängt nicht nur am Geld, sondern auch daran, wie offen darüber im Unternehmen gesprochen wird.
"Ein Schlüssel ist gute Kommunikation", sagt Ockenfels. "Unsere Studien zeigen, dass Ungleichheit akzeptiert wird, wenn sie nachvollziehbar begründet und gut kommuniziert wird. Und oft auch dann, wenn die zugrunde liegenden Maßstäbe für alle gleich sind."
Gerade in Deutschland gibt es große Gehaltsunterschiede: Der Durchschnittslohn eines Mannes liegt hier 22 Prozent über dem einer Frau. In kaum einem anderen europäischen Land klafft zwischen beiden Geschlechtern eine derart große Lücke, weshalb Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) im Frühjahr ein Gesetz angekündigt hat, das allen Mitarbeitern ermöglichen soll, sich über das Gehaltsgefüge in ihrem Unternehmen zu informieren. Allein mit ihren ersten Überlegungen stieß sie auf heftige Kritik aus der Wirtschaft. Dabei sind Ökonomen und andere Sozialwissenschaftler überzeugt, dass sich Unternehmen diesem Wandel nicht verweigern können. In Zeiten des Fachkräftemangels sind sie darauf angewiesen, Talente nicht nur zu gewinnen, sondern auch zu halten.
Der Kölner Ökonom Ockenfels verbringt derzeit einen Forschungsaufenthalt in Stanford - und neulich hat ihm ein Mitarbeiter von Google erzählt, wie groß der Wirbel um die Tweets von Erica Joy dort ist. Vermutlich liege das auch daran, dass die Gehaltsunterschiede sehr unerwartet für alle sichtbar wurden. "Unsere Studien zeigen, dass ein intransparentes System zu größeren Ungleichheiten führt als ein von Anfang an transparentes System. Dazu kommt, dass es auf die Schnelle für den einzelnen Mitarbeiter einfacher ist, sich ungerecht behandelt zu fühlen, als nach Gründen für die Unterschiede zu suchen", sagt der Wissenschaftler. "Eines scheint aber sicher: Bei Google wird nun jede Menge Kommunikation notwendig sein."