Zeiterfassung für Mitarbeiter:Arbeitsrichter überrumpeln Bundesregierung

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So könnte die Arbeitszeit gemessen werden: Eine Eingangsschleuse beim Autobauer BMW in München. (Foto: Florian Peljak)

Das Bundesarbeitsgericht sorgt mit einem Grundsatzurteil für Furore: Unternehmen müssen Beschäftigten künftig die Arbeitszeiterfassung ermöglichen.

Von Benedikt Peters

Während die Politik noch zögert, schafft das Bundesarbeitsgericht Fakten. Die Erfurter Richter fällten am Dienstag ein Grundsatzurteil, das tiefgreifende Auswirkungen auf potenziell alle Arbeitnehmer in Deutschland hat. Demnach sind die Arbeitgeber verpflichtet, "ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann".

In arbeitsrechtlichen Kreisen wird das Urteil mit großer Verblüffung aufgenommen. "Es ist eine faustdicke Überraschung", sagt etwa der Münchner Arbeitsrechtler Philipp Byers von der Kanzlei Watson Farley & Williams. "Und es schafft eine enorme Rechtsunsicherheit, die die Bundesregierung nun dringend beseitigen muss."

Der Fall, der dem Grundsatzurteil zugrunde lag, mutet eher kleinteilig an: Der Betriebsrat einer Pflegeeinrichtung in Ostwestfalen wollte 2018 durchsetzen, dass die Arbeitszeit der Beschäftigten elektronisch erfasst wird. Lesegeräte dafür waren bereits angeschafft worden, doch am Ende scheiterte das Vorhaben am Widerstand der Geschäftsführung. Der Betriebsrat versuchte daraufhin, die Einführung der Zeiterfassung zu erzwingen, erst mithilfe einer Schlichtungsstelle, dann in einem Prozess vor dem Arbeitsgericht.

Das Landesarbeitsgericht Hamm gestand dem Betriebsrat schließlich ein sogenanntes "Initiativrecht" zu, also die Möglichkeit, die Zeiterfassung selbst auf den Weg zu bringen. Damit wich es von der seit 1989 geltenden Rechtsprechung ab. Bisher hatte die Arbeitsgerichtsbarkeit Betriebsräten bei der Zeiterfassung nur ein "Abwehrrecht" zugestanden - die Arbeitnehmervertreter konnten demnach eine Schlichtungsstelle anrufen, wenn sie gegen die Einführung einer Zeiterfassung waren. Sie konnten sie also nur verhindern, aber nicht verlangen.

Für Unternehmen und Beschäftigte könnte sich eine Menge ändern

Erwartet worden war nun vom Bundesarbeitsgericht, die Frage des Initiativrechts zu klären. Doch der Urteilsspruch ist viel weitreichender. Im Kern argumentiert die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner, die auch die Verhandlung leitete, mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Dieser hatte schon 2019 entschieden, dass Arbeitgeber in der Europäischen Union ein Zeiterfassungssystem einführen müssen. Die Bundesregierung aber hat das Urteil bisher nicht umgesetzt. Im Koalitionsvertrag heißt es lediglich, der "Anpassungsbedarf" werde geprüft - und, dass Vertrauensarbeitszeit weiterhin möglich sein soll. Nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts muss nun aber gar nicht abgewartet werden, bis die Bundesregierung das EuGH-Urteil umsetzt. Stattdessen führt das Urteil direkt dazu, dass Arbeitgeber eine Zeiterfassung einführen müssen.

Für Unternehmen und Beschäftigte wirft das eine Reihe von Fragen auf. Es gibt nun offenbar die Pflicht zur Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems, aber es fehlen Gesetze, die definieren, wie das konkret geregelt werden soll. Müssen Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit dokumentieren? Oder müssen sie nur die Möglichkeit dazu haben? Das bleibt offen. Eine weitere Frage ist, wie es nun mit der sogenannten Vertrauensarbeitszeit weitergeht. In vielen Unternehmen, etwa in Kreativbranchen oder der Wissenschaft, zeichnen die Beschäftigten ihre Stunden nicht auf. Ob dieses Modell in Zukunft haltbar ist, ob es zum Beispiel für einzelne Berufsfelder Ausnahmen gibt, ist ebenfalls unklar. Sicher ist hingegen: Ein Initiativrecht zur Einführung der Zeiterfassung hat ein Betriebsrat nicht. Denn es ist nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts ja ohnehin schon geltende Pflicht für Arbeitgeber, ein solches System bereitzustellen.

Die Corona-Pandemie hat die Lage verändert

Der aufsehenerregende Fall zeigt darüber hinaus, wie stark sich der Blick auf die Arbeitszeit und deren Aufzeichnung in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Früher waren beinahe immer die Arbeitgeber diejenigen, die eine Stechuhr einführen wollten - um mehr Kontrolle über die Beschäftigten im Betrieb zu haben. Betriebsräte waren tendenziell eher dagegen, sie lehnten die "Überwachung" ab und äußerten datenschutzrechtliche Bedenken.

Im Zeitalter der Digitalisierung und der Corona-Pandemie liegt der Fall jedoch häufig anders. Ein Viertel aller Beschäftigten arbeitete nach Zahlen des Statistischen Bundesamts im vergangenen Jahr zumindest zeitweise im Home-Office. Möglich wurde das in vielen verschiedenen Branchen, etwa bei Banken und Versicherungen, im Zeitungswesen, im Marketing oder in der Wissenschaft. Die Wahrnehmung, wem eine Zeiterfassung nützt, hat sich damit verschoben. Mitunter sind es nun die Arbeitnehmer, die sie wünschen: Wer von zu Hause arbeitet, läuft Gefahr, Überstunden zu machen oder Ruhezeiten nicht einzuhalten, der Laptop ist schneller aufgeklappt als der Computer im Büro hochgefahren. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Beschäftigte, die keine Zeiterfassung wünschen und stattdessen die Vertrauensarbeitszeit beibehalten wollen. Sie sehen es als Vorteil, flexibel arbeiten zu können, auch wenn dabei nicht immer gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten oder Arbeitszeithöchstgrenzen eingehalten werden.

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts wirft ein Schlaglicht darauf, dass das Arbeitszeitrecht in Deutschland eine Großbaustelle ist. Es stammt zu einem Großteil noch aus den 1990er Jahren - seitdem sich durch die Digitalisierung viel verändert hat. Der Arbeitsrechtler Philipp Byers fordert, die Bundesregierung müsse nun darüber nachdenken, es komplett zu reformieren.

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