Süddeutsche Zeitung

Zehn Jahre Lehman-Kollaps:Die nächste Finanzkrise kann scheinbar aus dem Nichts losbrechen

Nicht der Staat war schuld am Crash im Jahr 2008 - es war die Gier der Banker. Solange die Weltgemeinschaft undurchsichtige Geschäfte der Finanzindustrie duldet, droht die nächste Krise.

Kommentar von Ulrich Schäfer

Vor ein paar Wochen konnte man es wieder in den Boulevard-Medien lesen, in dicken, fetten Lettern. Geld-Alarm! Die deutschen Sparer würden durch die niedrigen Zinsen enteignet, und "Dauer-Schuldige" seien die Europäische Zentralbank (EZB) und deren Chef Mario Draghi. Auch Banker, Versicherungschefs und Ökonomen luden die Schuld für die "Geld-Misere" (Bild) bei der EZB ab - und nicht bei jenen Akteuren, die vor einem Jahrzehnt die Welt in eine epochale Finanzkrise stürzten: bei gierigen Spekulanten, trickreichen Investmentbankern und skrupellosen Händlern.

Der Versuch, Mario Draghi und der EZB die Schuld für den jetzigen Zustand unserer Wirtschaft in die Schuhe zu schieben, ist Teil eines größeren Narrativs, welches immer mehr Anhänger findet; es versucht, den Blick auf die wahren Ursachen der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren zu verschleiern. Dieses Narrativ läuft darauf hinaus, dass vor allem der Staat die Weltwirtschaft ins Wanken gebracht habe - und nicht eine entfesselte Finanzindustrie.

Globales Hütchenspiel

Diese Erzählung wird befördert von Konservativen, die staatlichem Handeln kritisch gegenüberstehen; von Bankern, die von ihren Versäumnissen ablenken wollen; und von Populisten, die bei ihrer Kritik an der Euro-Rettungspolitik übergehen, dass die Probleme nicht erst mit dem Ausbruch der europäischen Staatsschuldenkrise 2010 begannen - sondern schon 2007, als die ersten Banken kippten. Die Krise kulminierte dann vor exakt zehn Jahren, am 15. September 2008, im Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers.

Am Anfang der Versuche, die Lehman-Story umzudeuten, steht der Vorwurf, für die Blase am US-Immobilienmarkt, die 2007 platzte, sei vor allem die amerikanische Regierung verantwortlich gewesen; denn sie habe armen Menschen unbedingt zu einem eigenen Haus verhelfen wollen. Tatsächlich jedoch waren es weniger staatliche Förderinstitute, sondern vor allem private Banken und Kredithaie, die mittellosen US-Bürgern ihre Ramschkredite aufdrängten. Investmentbanker schnürten die Kredite anschließend zu hochriskanten Wertpapieren und verschoben sie, versehen mit viel zu hohen Noten privater Ratingagenturen, rund um den Globus - ein Hütchenspiel, das ins Verderben führte.

Ein Teil dieser Pakete, aber nur ein sehr kleiner, landete schließlich bei Landesbanken in Deutschland. Deren Pleite wird gern als Beleg dafür herangezogen, dass es eben vor allem staatliche Banken gewesen seien, die sich verzockt haben. Tatsächlich sind die Landesbanken erst spät auf diesen Zug aufgesprungen, und so gerieten 2008 in erster Linie private Banken in Not, in den USA, Italien, Belgien oder Großbritannien, aber auch in Deutschland, wo die Hypo Real Estate kollabierte; mit aberwitzigen Summen musste sie gerettet werden.

Ein drittes Argument, welches dem Staat die Verantwortung zuzuweisen versucht, ist das Versagen der Aufsichtsbehörden. Sie hätten zu spät eingegriffen. Dieser Vorwurf ist scheinheilig, schließlich hat die Finanzlobby seit den späten 1980er-Jahren darauf gedrungen, die Kapitalmärkte zu deregulieren - die Politik ließ sich von diesem marktradikalen Denken infizieren.

Schattenbanken verwalten 34 Billionen Dollar

Und schließlich schimpft man auch sehr gerne über die EZB. Sie zerstöre mit ihren Niedrigzinsen das Vermögen der Sparer. Auf diese Weise wird der Gärtner zum Bock gemacht, denn die EZB hat mit ihrer Geldpolitik ja gerade verhindert, dass die Staatsschuldenkrise in Europa ins Fiasko führte. Zudem hätte es die Staatsschuldenkrise in dieser Form wohl nicht gegeben, wenn nicht zuvor das Finanzsystem zusammengebrochen wäre. Europas Staaten mussten sich nach dem Crash von 2008 viele Milliarden Euro leihen, um die Banken und die Konjunktur zu stützen - und das machte die Finanzmärkte nervös.

Es ist daher richtig, dass der Staat nach der Krise versucht hat, die Finanzmärkte stärker zu bändigen, um ähnlich schwere Krisen in Zukunft zu verhindern. Es ist richtig, dass die Banken nun mehr Eigenkapital bereithalten müssen und die Aufseher mehr Macht bekommen haben, und dass Europa eine Bankenunion schafft, mit einheitlichen Regeln für seine großen Geldhäuser.

Manches aber ist Stückwerk geblieben. So hatte Kanzlerin Angela Merkel nach der Lehman-Pleite gefordert, es dürfe keinen Finanzplatz, keinen Finanzmarktakteur und kein Finanzprodukt geben ohne vernünftige Regulierung. Tatsächlich aber gibt es bis heute mächtige Schattenbanken, die ähnlich wie Geldhäuser agieren, aber viel schwächer überwacht werden; dazu zählen Hedgdefonds ebenso wie Private-Equity-Gesellschaften. Sie verwalten etwa 34 Billionen Dollar - das entspricht der Hälfte dessen, was die Menschheit alljährlich erwirtschaftet.

Zudem gibt es nach wie vor Abertausende Briefkastenfirmen, mit deren Hilfe die Finanzindustrie ihre Geschäfte abwickelt, sie sitzen in Steueroasen in der Karibik ebenso wie in Europa. Diese sogenannten Zweckgesellschaften haben meist nur einen Zweck: Sie sollen das Kapital strengerer staatlicher Kontrolle entziehen.

Solange die Weltgemeinschaft es weiterhin zulässt, dass die Finanzindustrie ihre Geschäfte in solch trübe Gewässer leitet, besteht die Gefahr, dass scheinbar aus dem Nichts die nächste Finanzkrise losbricht und, wie nach dem Lehman-Crash, Schäden dort anrichtet, wo es niemand erwartet hat. Ein andere Gefahr lauert im Cyberspace. Wer mit Aufsehern spricht, hört immer wieder die Sorge, dass eine Attacke auf die Computernetze der Finanzindustrie die nächste große Krise herbeiführen könne.

Denn auch zehn Jahre nach dem Lehman-Crash hat sich die Weltwirtschaft von der Finanzkrise noch nicht wieder erholt: Die globale Ökonomie ist und bleibt, trotz aller Maßnahmen, die Politiker ergriffen haben, labil und krisenanfällig.

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Quelle:
SZ vom 15.09.2018/hgn
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