Zehn Jahre Hartz IV:Kontrolle bis tief ins Private

Oder weil sie an Schulungen teilnehmen müssen, die ihnen nichts bringen. Der Ermessensspielraum der Mitarbeiter in den Jobcentern ist von außen oft nicht erkennbar: Darf ein Berater nicht mehr geben? Will er es nicht? Oder weiß er es selbst nicht? Einmal kam eine junge Frau zu Hannemann, sie wollte ihren Hauptschulabschluss nachholen. Hannemanns Kollegen hatten das abgelehnt, obwohl sie einen Rechtsanspruch darauf hatte: Sie sei zu unzuverlässig, sie würde das eh nicht durchziehen, hatte es geheißen. Doch die junge Frau schaffte es. Besonders geißelt Hannemann die ständig drohenden Sanktionen in Form von Leistungskürzungen. Wer nicht zu einem Termin erschien, muss am Ende mit weniger als dem Existenzminimum auskommen. Hartz bedeutet: Überwachung und Gängelung bis tief in die privaten Lebensverhältnisse hinein.

Kontrolle

Viele Erwerbslose kennen das: Unangemeldet steht plötzlich jemand vor der Tür und möchte die Wohnung sehen. Zum Beispiel, ob da vielleicht jemand noch im Bett liegt, der die Versorgung an Stelle des Jobcenters übernehmen könnte. Armutsforscher Butterwegge spricht von einem totalitären System, das mit Hartz IV entstanden sei und die Betroffenen nicht mehr loslasse. "Es beherrscht ihren Alltag und zwinge sie, ihr gesamtes Verhalten danach auszurichten." Wie nie zuvor in der Bundesrepublik maße sich der Staat an, über die Lebensweise von Millionen Beziehern der Grundsicherung zu entscheiden. Es handle sich dabei um eine institutionelle Diskriminierung. Viele Mitarbeiter in den Jobcentern wollten eigentlich nur das Beste für die Betroffenen, oft genug seien sie ja selbst nur befristet beschäftigt und lebten unter dem Damoklesschwert Hartz IV. Trotzdem übernähmen sie eine soziale Kontrollfunktion, weil die institutionelle Struktur sie zu einer Art Übervater für die Hartz-IV-Bezieher mache.

Grafik: Armutsrisiko in ausgewählten Ländern Europas in Prozent.

Trauma

Die vergangenen zehn Jahre zeigen: Das Hartz-IV-System ist ein unglaublich rigides Armutsregime. Deutschland lebe über seine Verhältnisse, heißt es doch immer. In Wahrheit geben sich immer mehr Menschen mit immer weniger zufrieden - in einer Gesellschaft die ansonsten immer reicher wird. "Hartz IV bewirkt eine Anspruchsreduktion, die mit einer Traumatisierung einhergeht", sagt Butterwegge. Die Menschen nähmen sich selbst zurück. "Sie werden gedemütigt und demoralisiert".

Und es wirkt noch viel weiter: "Es hinterlässt nicht nur bei den Betroffenen weitreichende Schäden, sondern auch bei jenen, die fürchten, auf die Position zurückzufallen", stellt Soziologe Dörre fest. Entsprechend hoch sei bei ihnen die Bereitschaft, Konzessionen zu machen, um ja nicht in Hartz IV hineinzurutschen. So erkläre sich, warum der Niedriglohnsektor in Deutschland mittlerweile so ausgeprägt sei. Diejenigen hingegen, die länger im Hartz-IV-Bezug bleiben, müssen sich mit einer Lage arrangieren, sich anpassen, um zu überleben. "Aber je stärker sie ihre Lebensplanung und ihren Lebensstil verändern, desto stärker unterscheiden sie sich vom Rest der Gesellschaft. Die Langzeitarbeitslosen werden so zur Zielscheibe der anderen und ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Sie werden unsichtbar. Mareike Homberg ist auch unsichtbar geworden, irgendwo am Rand einer deutschen Großstadt. Sie hat ein Handy und einen Fernseher. "Also, ist doch alles gut", sagen manche zu ihr. Alles gut? Nein. Sie ist kein Mitglied der normalen Gesellschaft mehr.

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